Question to the brain

Wie funktioniert ein fotographisches Gedächtnis?

Questioner: MS

Published: 12.11.2017

Wie funktioniert ein fotographisches Gedächtnis? Und wieso hat nicht jeder ein fotographisches Gedächtnis?

The editor's reply is:

Antwort von Prof. Dr. Ulrich Ansorge, Fakultät für Psychologie, Universität Wien:  Ein fotografisches Gedächtnis gibt es so, wie es umgangssprachlich gemeint ist, nicht. Zwar existieren sehr wenige Personen, die sich visuelle Details sehr gut merken können. Aber immer gibt es Abweichungen von der Vorlage. Eine perfekte Repräsentation visueller Art gibt es nicht.

Was dem fotografischen Gedächtnis am nächsten kommt, ist das ikonische und das eidetische Gedächtnis. Das ikonische Gedächtnis ist eine kurzdauernde Form von visueller Repräsentation, die meist nur ein paar Hundert Millisekunden dauert. Die ist relativ umfassend und quasi die Grundlage dessen, was in das so genannte Kurzzeitgedächtnis eingespeichert wird. Ein ikonisches Gedächtnis besitzen wir alle, wie Experimente von George Sperling zeigten. Darin präsentierte er Personen für sehr kurze Zeit einige Zeichen, zum Beispiel zwölf Buchstaben in drei Zeilen, und bat sie anschließend eine bestimmte Zeile aus dem Gedächtnis zu berichten. Im Schnitt konnten die Probanden drei von vier Zeichen korrekt wiedergeben – aber nur für kurze Zeit. Wenn sich die Zeitspanne zwischen dem Präsentieren der Buchstaben und der Aufforderung zur Wiedergabe erhöhte, von 300 auf 500 Millisekunden oder gar eine Sekunde, konnten sie nur noch einzelne Buchstaben berichten. Für kurze Dauer haben wir also eine relativ umfangreiche visuelle Repräsentation der Umgebung. So kurz, dass wir uns der Information kaum bewusst sind und diese von der Wahrnehmung selbst fast nicht unterscheiden können.

Das eidetische Gedächtnis ist sehr selten und dauert wesentlich länger – angeblich bis zu mehreren Minuten. Die sogenannten Eidetiker berichten subjektiv, dass es sich so anfühlt, als ob der visuelle Eindruck für diese Zeitdauer bestehen bleibt, was Nicht-Eidetiker vielleicht als Nachbild empfinden würden, bei Eidetikern aber den Charakter einer „Projektion“ annimmt. Im Gegensatz zum ikonischen Gedächtnis, lässt sich ein solcher subjektiver Eindruck nicht leicht durch objektive Messungen nachweisen. Aber es gibt ein paar interessante Einzelfälle, die das plausibel erscheinen lassen. Ein berühmtes Beispiel ist Stephen Wiltshire, der nach einem Flug über New York City die ganze Stadt korrekt nachzeichnen konnte.

Interessant ist bei diesen Fällen, dass die meisten allgemein ein sehr gutes Gedächtnis haben, also nicht nur für visuelle Informationen, sondern auch für gehörte und gefühlte Informationen. Zudem haben sie oft psychische Abweichungen: Viele Eidetiker sind Autisten, wie Wiltshire, oder Synästhetiker, also Menschen, die immer mehrere Sinnesempfindungen gleichzeitig haben. Menschen mit einer Farb-Graphem-Synästhesie empfinden beispielsweise bestimmte Farben beim Hören oder Sehen bestimmter Zahlen. Ein berühmter Eidetiker, Solomon Schereschewski , hatte das in extremem Ausmaß. Er nahm auch jeden unimodalen Reiz, also Reize, die zum Beispiel nur gesehen oder nur gehört werden, mit drei oder vier Sinnen gleichzeitig wahr. Beispielsweise schmeckte und spürte er, was er sah. Diese Form der vielfachen Kodierung von wahrgenommener Information dürfte seine Gedächtnisleistung massiv unterstützt haben.

Welche physiologischen Gehirnprinzipien genau für die Leistung von Eidetikern verantwortlich sind, ist bis heute nicht geklärt. Zum einen sind Veränderungen des Gehirns entweder kaum messbar – wie bei Synästhetikern – oder sehr vielgestaltig – wie bei Autisten. Zum anderen sind die heutigen Arten der Messung gesunder Hirnfunktion immer noch eingeschränkt. Zwar kann man Gehirne nach dem Tod einer Person genauer analysieren, doch fehlt dann der Zusammenhang zur Funktion, also der nachweisbaren Aktivierung der in Frage stehenden Gehirnregionen bei den Gedächtnisaufgaben. So spekulieren Forscher, ob ein eidetisches Gedächtnis möglicherweise mit einer schwachen Verbindung der beiden Hirnhälften einhergeht. Aber nicht jeder Mensch, bei dem das der Fall ist, besitzt so ein Gedächtnis. Es müssen also noch weitere Faktoren hinzukommen.

Es wird auch darüber spekuliert, ob bei Kindern das eidetische Gedächtnis stärker ausgebildet ist und dieses dann mit dem Spracherwerb durch sprachliches oder bedeutungszentriertes, das semantische Gedächtnis abgelöst wird. Aber so häufig ist das auch unter Kindern nicht, und da sie relativ jung sein müssen, sind auch die motorischen Fähigkeiten wie das Zeichnen noch eingeschränkt, die Tests dadurch weniger überzeugend als bei Erwachsenen.

Obwohl sich so manch einer ein fotografisches Gedächtnis wünscht, ist Vergessen in Wirklichkeit eine gute Sache. Und damit ist nicht nur das Vergessen negativer Ereignisse gemeint. Es gibt so viele Informationen, die wir nur zeitweise benötigen. Mithilfe des Vergessens konzentriert sich unser Gehirn also auch auf die wesentlichen Dinge.

Aufgezeichnet von Nicole Paschek

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