Question to the brain

Superhirn nach Hirnverletzungen?

Questioner: Andreas Giebel fragt:

Published: 28.03.2021

Hochgeschwindigkeitsrechenen, nie gelernte Sprachen – manchmal fördern Gehirnverletzungen ungeahnte Fähigkeiten zutage. Wie kommt das?

The editor's reply is:

Professor Sven Bölte, Direktor des Zentrums für Neuronale Entwicklungsstörungen (KIND) am Karolinska Institut, Stockholm: Es gibt Menschen, vor allem autistische, bei denen sich eine besondere Fähigkeit schleichend entwickelt, oft schon im Kindesalter. Diese Fähigkeit, die sogenannte Inselbegabung (Savant Syndrom), bleibt dann meist ein Leben lang erhalten. Daneben gibt es aber auch Menschen, die im Rahmen einer neurodegenerativen Erkrankung, zum Beispiel der Alzheimerkrankheit, oder einer Gehirnverletzung erst im Verlauf des Lebens vorübergehend und recht spontan besondere Fähigkeiten zeigen. Es gibt somit zwei verschiedene Zugänge zu diesem Phänomen. Beide Fälle sind äußerst selten und sind vor allem durch die Parallelität mit den beeinträchtigenden psychischen oder körperlichen Erscheinungen erstaunlich.

Derzeit kann man das Phänomen der besonderen Fähigkeiten nicht exakt erklären Es gibt jedoch Modelle: Bei einer plötzlichen Gehirnverletzung oder Gehirnerkrankung kommt es zu einer Schädigung des Gehirns und damit verbunden auch zu Ausfällen, die sehr vielfältig sein können. Das Gehirn versucht durch kompensatorische Prozesse die verloren gegangenen Fähigkeiten auszugleichen und sich anzupassen. Während dieses Prozesses können zufällig Steigerungen von Fertigkeiten, etwa von musischem oder mathematischem Können als Begleiterscheinung auftreten.

Bei Menschen mit einer bereits im Kindesalter entstehenden Inselbegabung geht man von einer veränderten Gehirnbalance zwischen Bottom-up und Top-Down Prozessen aus. Bottom-up bezeichnet dabei Prozesse der Informationsverarbeitung, die sehr stark von der Sensorik wie Sehen, Hören und Fühlen und so weiter getrieben sind. Bei Top-Down Verarbeitung werden Informationen aufgrund von Erfahrungen, Strategien und Erwartungen anders verarbeitet und bewertet. Im Laufe des Lebens verändert sich die Informationsverarbeitung eines Menschen von einer eher Bottom-up zu einer Top-down Strategie. Bei Menschen mit einer Inselbegabung wird nun vermutet, dass sie eher in der Bottom-up Strategie verweilen oder zumindest weiterhin Zugang zu diesen Informationen haben. Menschen mit einem fotografischen Gedächtnis etwa können die visuelle Information von Bildern im Gedächtnis speichern, ohne diese zu bearbeiten oder analysieren und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abrufen. Diese Fähigkeit entspricht der Bottom-up Strategie. Bei Inselbegabten wird angenommen, dass sie Informationen ohne diese zu intellektualisieren aufnehmen und verwenden können.

Es gibt einige interessante Untersuchungen von Niels Birbaumer, bei Menschen mit der Fähigkeit von Kalenderberechnungen, die also auf Grundlage eines Datums schnell den Wochentag dazu berechnen können. Diese Personen konnten schon in einem sehr frühen Stadium der Informationsverarbeitung Veränderungen in bestimmten Hirnströmen, den ‚frühen Potentialen‘ aufweisen. Die Fähigkeit scheint sich daher eher im Unterbewussten abzuspielen.

Einige interessante Studien hat der australische Wissenschaftlers Allen Snyder vom Center of the Mind in Sydney durchgeführt. Er stimulierte oder hemmte bei gesunden Studenten mithilfe der transkraniellen Magnetstimulation bestimmte frontotemporale Gehirnbereiche und konnte so die Top-down Prozesse  vorübergehend Hemmen. Dadurch entstand ein Zugang zu den Bottom-up Prozessen. Snyder hat dies untersucht, indem er Studenten Worte ohne Bedeutung auswendig lernen ließ – eine sehr schwierige Aufgabe. Nach der Stimulation beziehungsweise Hemmung mit der transkraniellen Magnetstimulation waren die Studenten besser in der Lage diese sinnlosen Worte zu lernen.

Aufgezeichnet von Stefanie Flunkert

Inselbegabung

Inselbegabung/-/savant syndrome

Die Inselbegabung ist ein seltenes Phänomen, bei dem Menschen mit kognitiven Defiziten auf einem oder mehreren sehr begrenzten Gebieten ganz erstaunliche Fähigkeiten besitzen – zum Beispiel sechsstellige Primzahlen zu nennen oder nach einem Flug über eine Stadt diese aus dem Gedächtnis korrekt bis in die Einzelheiten zu zeichnen. Der wohl bekannteste Inselbegabte war Kim Peek, das Vorbild für den Film „Rain Man“.

Neurodegeneration

Neurodegeneration/-/neurodegeneration

Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-​Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.

Eidetisches Gedächtnis

Eidetisches Gedächtnis/-/eidetic memory

Der Begriff eidetisches Gedächtnis bezeichnet das Phänomen eines nahezu perfekten visuellen Gedächtnisses. Manchmal wird auch der Begriff »fotografisches« Gedächtnis verwendet. Das Phänomen ist sehr selten, wissenschaftlich jedoch nicht klar definiert.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Hemmung

Hemmung/-/inhibition

Die neuronale Inhibition, oder auch Hemmung umschreibt das Phänomen, dass ein Senderneuron einen Impuls zum Empfängerneuron sendet, der bei diesem dazu führt, dass seine Aktivität herabgesetzt wird. Der wichtigste hemmende Botenstoff ist GABA.

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