Frage an das Gehirn
Hat sich das Gehirn in den letzten 500 Jahren verändert?
Veröffentlicht: 10.04.2022
Hat sich das menschliche Gehirn in den letzten 500 Jahren angepasst, um sich an die Informationsflut anzupassen?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Dr. Philipp Gunz, Abteilung für Humanevolution, Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, Leipzig: Leider gibt es keine Langzeitstudien zu diesem Thema, die 500 Jahre zurückgehen, da keine Gehirne aus dieser Zeit zur Verfügung stehen. Wir wissen aber, dass evolutionäre Veränderungen viel größere Zeiträume als 500 Jahre benötigen, um messbar zu sein.
Bei den versteinerten Knochen unserer Vorfahren lässt sich der Abdruck, den das Gehirn im Inneren des Schädelknochens hinterlässt, untersuchen und vermessen. Dieser Abdruck entsteht während der Kindesentwicklung, in der sich das Gehirn ausdehnt und durch Wachstum einen Abdruck im Inneren des Schädels hinterlässt. Wir wissen also sehr gut über die Evolution der Gehirngröße im Verlauf der letzten paar Millionen Jahre Bescheid und auch innerhalb unserer eigenen Art Homo sapiens.
Unsere eigene Art ist mindestens 300.000 Jahre alt und kommt aus Afrika. Aufgrund dieser Hirnabdrücke im Schädel lässt sich das endokraniale Volumen und somit das Gehirnvolumen messen. Außerdem bilden sich auf der Innenseite des Schädels die äußeren Gehirnwindungen ab, von denen sich ableiten lässt, wie sich die Gehirnorganisation evolutionär verändert hat. Anhand dieser Daten kann man sehen, dass innerhalb unserer Art und innerhalb der letzten 300.000 Jahre einige Gehirnareale größer geworden sind. Seit etwa 35.000 Jahren jedoch, hat sich die äußere Organisation des Gehirns, soweit wir es von Fossilien ablesen können, nicht verändert. Selbst die frühesten Homo sapiens-Funde, die wir derzeit kennen, haben bereits Gehirngrößen wie der heutige Mensch.
Die Größe des Gehirns ist aber natürlich nicht alles. Für die Kognition ist außerdem absolut entscheidend, wie Gehirnareale miteinander vernetzt sind. Diese Vernetzung beginnt bereits vorgeburtlich, entsteht aber hauptsächlich in der Frühphase der Kindesentwicklung der ersten Lebensjahre. Zu diesem Zeitpunkt werden somit die Netzwerke des kindlichen Gehirns gebildet, die abhängig von Umweltreizen sind. Das Gehirn wird zusätzlich im Laufe des Lebens kontinuierlich umgebaut, jedoch sind die ersten Lebensjahre entscheidend für die Netzwerkbildung. Natürlich haben die veränderten Umweltbedingungen und sozialen Reize der letzten 500 Jahre auch Einfluss auf die Vernetzung des Gehirns genommen. Aber es gibt keine direkten Belege dafür, dass sich die kognitiven Fähigkeiten in den letzten 500 Jahren verändert haben.
Außerdem lässt sich die Evolution des Gehirns anders betrachten, indem man archäologische Funde untersucht, ob diese auf größere kognitive Veränderungen hinweisen. Aber auch da ist die aktuelle Interpretation, dass die kognitiven Fähigkeiten unserer Urahnen bereits vor etwa 100.000 Jahren vergleichbar mit denen heute lebender Menschen waren. Die meiste Zeit unserer evolutionären Geschichte waren wir Jäger und Sammler. Erst seit etwa 10.000 Jahren betreiben Menschen Ackerbau. All diese Fähigkeiten, die man braucht, um ein erfolgreicher Jäger und Sammler zu sein, und auch die Höhlenmalereien, deuten auf kognitive Leistungen hin, die dem heutigen Menschen in Nichts nachstehen.
Der größte Unterschied zwischen dem heutigen und dem Menschen vor 500 Jahren ist eine bessere Ernährung und Gesundheitsversorgung, so dass die Menschen größer, stärker und älter werden. Daraus lässt sich jedoch kein Schluss auf die kognitiven Leistungen ziehen.
Aufgezeichnet von Stefanie Flunkert