Verborgene Kanäle

© Michael Giannetto
Immunohistochemistry staining of astrocytes in the CA1 region of hippocampus in a mouse brain. Aquaporin-4 on astrocyte endfeet outline blood vessels (magenta),  glial fibrillary acid within the main processes of astrocytes (green) and 4',6-diamidino-2-phenylindole labeling cell nuclei (gray).

Der Weg bis zur Entdeckung eines Systems zur Abfallentsorgung im Gehirn war steinig und voller Umwege. Wir zeichnen den Weg nach und nennen die wichtigsten Meilensteine.  

Scientific support: Prof. Dr. Petra Wahle

Published: 06.11.2024

Das Wichtigste in Kürze
  • Paolo Mascagni stieß bereits im 18. Jahrhundert auf Lymphgefäße in der harten Hirnhaut, aber seine Entdeckung wurde größtenteils ignoriert und vergessen.
  • Patricia Grady entdeckte 1985, dass Hirnflüssigkeit in das Hirngewebe eindringt, ihre Ergebnisse wurden jedoch lange nicht bestätigt.
  • Maiken Nedergaard beschrieb 2012 das glymphatische System mithilfe der 2-Photonen-Mikroskopie; das System reinigt das Gehirn während des Schlafs.
  • 2023 beschrieb Nedergaard eine vierte Hirnhaut, die möglicherweise sauberen von verschmutztem Liquor trennt und für den gerichteten Fluss von Hirnflüssigkeit wichtig ist.
Glymphatisches System in Eckpunkten
  • Die Ventrikel produzieren die Hirnflüssigkeit und verteilen sie. 
  • Weiter transportiert wird die Hirnflüssigkeit entlang von Räumen, die parallel zu den Arterien im Gehirn verlaufen.
  • Angetrieben wird der Transport durch die pulsierenden Bewegungen der Arterien 
  • Mithilfe von Wasserkanälen, die sich in den Endfüsschen von Astrozyten befinden, wird die Hirnflüssigkeit in das Hirngewebe in den Zellzwischenräumen verteilt.
  • Während die Hirnflüssigkeit durch das Hirngewebe fließt, nimmt sie Stoffwechselprodukte und Toxine auf .
  • Die mit Abfallstoffen beladene Flüssigkeit wird in den Räumen entlang der Venen abtransportiert.
Was wir nicht wissen

Laut Studien der dänischen Neurowissenschaftlerin Maiken Nedergaard ist die Abfallentsorgung im Gehirn während des Schlafs besonders effektiv. Einer der möglichen Gründe dafür: Neurone sollen im Schlaf schrumpfen, dadurch die Zellzwischenräume im Gehirngewebe größer werden und damit der Abtransport leichter gehen. Doch 2024 kamen Forscher um Nick Franks, Professor für Biophysik und Anästhesie Imperial College London, zu dem gegenteiligen Ergebnis: Die Ausscheidung von Stoffen im Gehirn von Mäusen war während des Schlafs nicht etwa erhöht, sondern sogar deutlich reduziert. Schrumpfen also Neurone tatsächlich im Schlaf? Und ist die Abfallentsorgung im Schlummer wirklich effektiver?Das gilt es noch zu klären. Möglicherweise hängen die unterschiedlichen Ergebnisse mit methodischen Unterschieden zusammen: Maiken Nedergaard und ihre Kollegen injizierten fluoreszierende Marker unter anderem in die Ventrikel, Hohlräume, in denen sich die Hirnflüssigkeit befindet. Das Team um Nick Franks injizierte Markermoleküle hingegen direkt in das Gehirn.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Eigentlich hätte die Entdeckung schon vor langer Zeit Einzug on die anatomischen Lehrbüchern über das Gehirn finden müssen: Der italienische Anatom Paolo Mascagni (1755-1815) machte bereits Ende des 18. Jahrhunderts Lymphgefäße in der harten Hirnhaut des Gehirns aus. Aufgrund technischer Probleme war es allerdings niemandem gelungen, Mascagnis Experimente zu wiederholen und die Ergebnisse zu bestätigen. Daher geriet seine Entdeckung für mehr als zwei Jahrhunderte lang wieder in Vergessenheit.  Noch 2003 hie ß es in einer renommierten Fachzeitschrift herablassend: „Mascagni ist von den Lymphgefäßen so beeindruckt, dass er die Lymphgefäße überall sieht, auch dort, wo es sie nicht gibt, nämlich im Gehirn." 

Tatsächlich waren Forscher bis vor kurzem überzeugt, das Gehirn verfüge über kein eigenes Lymphsystem. Jenseits des Gehirns sorgt das lymphatische System im Körper dafür, dass Abfall aus den Zellen zur Leber und zu den Nieren abtransportiert wird, von wo aus er endgültig den Körper verlässt. 

Mittlerweile haben Forschende nicht nur bei Tieren, sondern auch beim Menschen lymphatische Gefäße in den Hirnhäuten entdeckt. 2017 hat ein Team um den Neurologen Daniel Reich vom US-amerikanischen NIH's National Institute of Neurological Disorders and Stroke mithilfe der Magnetresonanztomografie beobachtet, wie das menschliche Gehirn Flüssigkeit durch diese Gefäße leitete. Das, so die Hypothese, könnte der Abfallentsorgung dienen. 

Zudem wissen wir heute, dass im Gehirn eine Einrichtung existiert, die dem Lymphsystem ähnelt: das glymphatische System. Das glymphatische System transportiert Abfallstoffe innerhalb des Gehirns. Der Weg zu seiner Entdeckung war lang und steinig. Doch über einige Umwege fanden Forschende schließlich verborgene Kanäle im Gehirn. 

Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Entdeckung des glymphatischen Systems war eine Beobachtung, die sich ebenfalls lange nicht reproduzieren ließ. Mitte der 1980er Jahre injizierte die junge Neurowissenschaftlerin Patricia Grady von der University of Maryland School of Medicine in Baltimore einen Markerstoff in die Hirnflüssigkeit von Hunden oder Katzen. Ihre überraschende Entdeckung: Die Hirnflüssigkeit drang entlang von winzigen Kanälen, die parallel zu den Blutgefäßen verlaufen, ins Gehirngewebe ein. 

Diese Entdeckung war bahnbrechend. Sie zeigte: Hirnflüssigkeit gelangt in das Gehirngewebe selbst, spielt dort eine Rolle beim Transport und Austausch von Flüssigkeiten und ist möglicherweise an der Entfernung von Abfallstoffen beteiligt. Dieser Transport entlang der Blutgefäße ist ein zentraler Baustein des glymphatischen Systems. Doch die Geschichte wiederholte sich. Wie schon bei der Entdeckung von Lymphgefäßen in den Hirnhäuten im 18. Jahrhundert konnten Forschende die Ergebnisse von Grady nicht reproduzieren. Daher nahm man irrigerweise an, der Liquor würde nur unregelmäßig und in geringem Umfang in Kanäle entlang der Blutgefäße gelangen.  

Doch zugegeben: Das glymphatische System macht es Forschern nicht gerade leicht, ihm auf die Spur zu kommen. Denn das Reinigungssystem ist dynamisch und stark vom Fluss der Hirnflüssigkeit abhängig. Es lässt sich daher nur im lebendigen Gehirn beobachten. 

Immerhin brauchte es dieses Mal nicht über 200 Jahre, um die Ergebnisse von Patricia Grady doch noch zu bestätigen. Die dänische Neurowissenschaftlerin Maiken Nedergaard vom University of Rochester Medical Center nutzte 2012 die Zwei-Photonen-Mikroskopie und fluoreszierende Marker, um bei lebenden Mäusen die Bewegung der Hirnflüssigkeit innerhalb des Hirngewebes zu verfolgen. Dabei offenbarte sich ein Netzwerk von Kanälen parallel zu den Arterien, entlang derer der Liquor in die Zellzwischenräume des Hirngewebes eindringt. Getrieben wird der Transport durch den Puls der Arterien. Mithilfe von Studien an Nagetieren ließ sich außerdem belegen, dass der Liquortransport über das glymphatische System zumindest während des Schlafs schnell erfolgt – in Minuten bis Stunden. Nedergaard und ihre Kollegen nannten das von ihnen entdeckte System das glymphatische System.   

Entscheidend für den Flüssigkeitsaustausch zwischen den Räumen entlang der Blutgefäße und dem Hirngewebe sind Astrozyten, die die Blutgefäße und den Zwischenraum umschließen. In den Endfüsschen von Astrozyten sitzen nämlich Wasserkanalproteine (Aquaporin 4), die die Hirnflüssigkeit ins Hirngewebe leiten. Bei Mäusen, denen das Gen für diese Wasserkanalproteine fehlt, ist der Zufluss von Hirnflüssigkeit in das Gehirn deutlich verringert und die Beseitigung von gelösten Stoffen aus den Zellzwischenräumen im Hirngewebe ist um 70 Prozent reduziert. 

Die vierte Hirnhaut  

Das glymphatische System mit seinen verborgenen Kanälen war somit entdeckt. 2023 folgte dann ein weiterer Meilenstein, der zu einem Umschreiben der anatomischen Lehrbücher über das Gehirn führen dürfte. Maiken Nedergaard stieß bei Mäusen und Menschen auf eine  vierte  Hirnhaut , die heute den komplizierten Namen „subarachnoidale Lymphatische Membran“ (SLYM) trägt. Bis zu dieser Entdeckung ging man von lediglich drei Hirnhäuten aus, die das Gehirn schützen: die Dura mater, die harte Hirnhaut als äußerste Schicht, gefolgt von der Arachnoidea (Spinngewebshaut) und der Pia mater, der weichen Hirnhaut. 

Die vierte Hirnhaut liegt zwischen der Arachnoidea und der Pia Mater und spaltet den sogenannten Subarachnoidalraum. Dieser ist mit Hirnflüssigkeit gefüllt. Als mit Flüssigkeit gefüllter Puffer schützt er das Gehirn vor Stößen und Verletzungen und ist gleichzeitig an der Entfernung von Abfallstoffen aus dem Gehirn beteiligt. Die vierte Hirnhaut ist dünn wie Seidenpapier. Gleichwohl kommen die meisten Proteine nicht durch sie hindurch, etwa das Protein Beta-Amyloid, dessen Ablagerungen mit Alzheimer in Verbindung gebracht werden. Insofern trennt die vierte Hirnhaut unter Umständen saubere von verschmutzter Hirnflüssigkeit. Überhaupt spielt sie offenbar eine wichtige Rolle für das glymphatische System. Eine physisch beschädigte vierte Hirnhaut beeinträchtigt den glymphatischen Fluss.     

Fast der Entdeckung entkommen

Die Membran war zuvor nicht bemerkt worden – zum Teil wohl, weil sie sich auflöst, wenn das Gehirn bei der Obduktion aus dem Schädel entfernt wird. Zudem ist sie zu dünn, um sich bei lebenden Menschen in Gehirnscans zu zeigen. "Aus meiner Sicht gibt es gute Hinweise auf eine Unterteilung des Subarachnoidalraums, auch wenn seine genaue Organisation heute noch nicht ganz klar ist”, sagt der Neurochirurg Per Kristian Eide vom Oslo University Hospital. 

Die Charakterisierung der vierten Hirnhaut durch die Nedergaard-Gruppe scheine überzeugend. Die Berichte über die Membran würden sicherlich andere Forscher inspirieren und das Wissen über die Hirnhäute voranbringen. "Die Entdeckung der vierten Membran ist wichtig, weil sie einen unterteilten Subarachnoidalraum offenbart, was für den gerichteten Liquorfluss innerhalb dieses Raums von Bedeutung ist“, so Eide. Dies sei für den Zufluss zum glymphatischen System wichtig. 

Anders als die Studie von Nedergaard wurden viele Untersuchungen zum glymphatischen System bislang an Tieren, vor allem Mäusen durchgeführt. Wie gut ist also das System zur Abfallentsorgung beim Menschen nachgewiesen? „Meiner Meinung nach haben wir gute Beweise für die Existenz eines glymphatischen Systems beim Menschen", sagt Per Kristian Eide. "Allerdings war es bisher nicht möglich, alle Aspekte des glymphatischen Systems beim Menschen zu untersuchen.“ Untersuchungen seiner eigenen Forschungsgruppe mit menschlichen Probanden und mithilfe der Magnetresonanztomografie erbrachten Hinweise auf verschiedene Aspekte: den glymphatischen Einstrom, die verzögerte Entsorgung von glymphatischen Abfällen bei bestimmten Krankheiten und nach Schlafentzug. „Es gibt immer mehr Belege für die Existenz eines menschlichen glymphatischen Systems“, betont Eide.

Man darf also gespannt sein, wann die Entdeckungen rund um das System zur Abfallentsorgung im Gehirn nun endlich Einzug in die neurowissenschaftlichen Lehrbücher halten. Wetten? So lange wie bei der Entdeckung der Lymphgefäße in den Hirnhäuten durch Paolo Mascagni im 18. Jahrhundert wird es wohl diesmal nicht dauern. 
 

Zum Weiterlesen

•    Hablitz, L.M. et al.: Increased glymphatic influx is correlated with high EEG delta power and low heart rate in mice under anesthesia. In:  Sci Adv  2019 Feb 27;5(2):eaav5447.
•    Miao, A. et al.: Brain clearance is reduced during sleep and anesthesia. In: Nat Neurosci 2024 Jun;27(6):1046-1050. 

EEG

Elektroencephalogramm/-/electroencephalography

Bei dem Elektroencephalogramm, kurz EEG handelt es sich um eine Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns (Hirnströme). Die Hirnströme werden an der Kopfoberfläche oder mittels implantierter Elektroden im Gehirn selbst gemessen. Die Zeitauflösung liegt im Millisekundenbereich, die räumliche Auflösung ist hingegen sehr schlecht. Entdecker der elektrischen Hirnwellen bzw. des EEG ist der Neurologe Hans Berger (1873−1941) aus Jena.

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