Das Gehirn vor Gericht
Die Hirnforschung hält Einzug in die Gerichtssäle. Spuren des Bösen finden sich viele im Denkorgan. Noch allerdings haben Hirnscans wenig Aussagekraft, wenn es um das Überführen eines Täters oder den Beweis seiner Schuldfähigkeit geht.
Scientific support: Prof. Dr. Jürgen Leo Müller
Published: 21.05.2012
Difficulty: intermediate
- Neurowissenschaftler kennen eine Reihe von Gehirnregionen, die bei antisozialem oder gewaltbereitem Verhalten eine Rolle spielen. Dazu zählen etwa Frontalhirn, Amygdala, Inselcortex und Cingulum.
- Vor Gericht sagen die Veränderungen im Denkorgan jedoch wenig aus: Es gibt bislang keine einheitlichen Muster, um “Tätergehirne” zu beurteilen. Gehirne sind individuell verschieden und lassen sich nur schwer miteinander vergleichen.
- Von Nutzen könnte die Neurologie für die Rechtsprechung dennoch sein. So könnten Hirnscans helfen, die richtige Behandlungsstrategie zu wählen und Therapieerfolge zu dokumentieren.
Cingulärer Cortex
Cingulärer Cortex/Cortex cingularis/cingulate cortex
Ein Bestandteil des präfrontalen Cortex, der sich auf der Stirnseite des Gehirns befindet. Wie ein halber Donut windet sich der cinguläre Cortex um den Balken. Funktionell gehört er zum limbischen System, das triebgesteuerte Verhaltensweisen reguliert.
Zwei Menschen standen 2009 und 2011 wegen Mordes vor einem italienischen Gericht und bekamen aufgrund eines neurologischen Gutachtens strafmildernde Umstände zugebilligt. Bei beiden spielte ein Defekt im MAO-A-Gen eine Rolle. Es verschlüsselt die so genannte Monoaminooxidase A, ein Enzym, das am Abbau von Serotonin und anderen Neurotransmittern beteiligt ist. Wird Serotonin nicht abgebaut und verbleibt zu lange im synaptischen Spalt, kann dies einen Rückgang der zugehörigen Rezeptoren zur Folge haben. Das Signal läuft ins Leere.
Der Niederländische Genetiker Han Brunner von der Universität Nijmegen entdeckte die Mutation 1993 bei einer Familie, deren männliche Mitglieder durch ihr aggressives Verhalten und ihren Hang zur Kriminalität auffielen. Die Erbkrankheit heißt heute Brunner-Syndrom. Interessanterweise kommt die Mutation nur bei Personen zum Tragen, die in ihrer Kindheit traumatisiert wurden, etwa durch Misshandlung oder Vernachlässigung. Andere Genträger sind in ihrem Verhalten unauffällig.
Serotonin
Serotonin/-/serotonin
Ein Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient. Er wird primär in den Raphé-Kernen des Mesencephalons produziert und spielt eine maßgebliche Rolle bei Schlaf und Wachsamkeit, sowie der emotionalen Befindlichkeit.
Rezeptor
Rezeptor/-/receptor
Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.
Phineas Gage, einst Vorarbeiter einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft, gelangte zu unfreiwilliger Berühmtheit: Bei einem Sprengunfall am 13. September 1848 jagte ihm eine Eisenstange durch den Kopf. Sie zerstörte sein linkes Auge und durchbohrte den Frontallappen des Mannes. Gage überlebte und war – bis auf den Verlust seines linken Auges – nach wenigen Wochen körperlich wiederhergestellt. Auch seine Motorik sowie seine intellektuellen Fähigkeiten, einschließlich Wahrnehmung, Gedächtnis, Intelligenz und Sprachfähigkeit, hatten keinen Schaden genommen. Allerdings veränderte sich seine Persönlichkeit: Der freundliche, besonnene und ausgeglichene Mann wurde später als kindisch, impulsiv und unzuverlässig beschrieben. Heute sprechen Mediziner von Frontalhirnsyndrom.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Frontallappen
Frontallappen/Lobus frontalis/frontal lobe
Der frontale Cortex ist der größte der vier Lappen der Großhirnrinde und entsprechend umfassend sind seine Funktionen. Der vordere Bereich, der so genannte präfrontale Cortex, ist für komplexe Handlungsplanung (so genannte Exekutivfunktionen) verantwortlich, die auch unsere Persönlichkeit prägt. Seine Entwicklung (Myelinisierung) braucht bis zu 30 Jahren und ist selbst dann noch nicht ganz abgeschlossen. Weitere wichtige Bestandteile des frontalen Cortex sind das Broca-Areal, welches unser sprachliches Ausdrucksvermögen steuert, sowie der primäre Motorcortex, der Bewegungsimpulse in den gesamten Körper aussendet.
Intelligenz
Intelligenz/-/intelligence
Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
Aus dem deutschen Strafgesetzbuch:
§ 20: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
§ 63: Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
(Auszüge aus dem Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 5 Absatz 3 des Gesetzes vom 24. Februar 2012 (BGBl. I S. 212) geändert wurde.)
Schuldfähigkeit
Schuldfähigkeit/-/responsibility
In neuroethischem Kontext ergibt sich das Thema „Schuldfähigkeit“ aus der Frage, ob der Mensch einen freien Willen besitzt: Nur wenn jemand eine Handlung aus freien Stücken begeht, lässt sich diese auch moralisch bewerten. Einige führende Neurowissenschaftler argumentieren auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse, der Mensch besitze keinen freien Willen. Demnach seien selbst Straftäter nicht für ihre Handlungen verantwortlich. Würde sich diese Denkweise durchsetzen, so hätte dies neben moralischen auch erhebliche juristische Auswirkungen.
Italien 2011: Eine geständige Mörderin wird zu 20 Jahren Haft verurteilt – anstelle von lebenslänglich. Die Frau hatte ihre Schwester getötet und die Leiche verbrannt. Ein Mordversuch an ihren Eltern scheiterte. Das vergleichsweise milde Urteil verdankt sie Bildern von ihrem Gehirn. Es hat im Vergleich zu Kontrollpersonen ein geringeres Volumen – insbesondere im Bereich des cingulären Cortex und in der Inselrinde. Außerdem besitzt die Frau ein Risiko-Gen, das mit einem Hang zu aggressivem Verhalten einhergeht.
Diese genetische Auffälligkeit – eine Mutation im MAO-A-Gen (siehe Info-Kasten) – zeigte auch ein Mörder, dem zwei Jahre zuvor ein italienisches Gericht strafmildernde Umstände zugestanden hatte. Und eine posthum entdeckte Veränderung im Gehirn von Ulrike Meinhof soll auch die Schuldfähigkeit der RAF-Terroristin in Zweifel ziehen.
Die Hirnforschung hält allmählich Einzug in die Gerichtssäle. Doch können Hirnscans tatsächlich dazu beitragen, einen juristischen Sachverhalt zu klären, einen Straftäter zu überführen oder seine Schuldfähigkeit zu klären? Oder besteht vielmehr die Gefahr, dass Richter sich vom trügerischen Charme bunter Bilder verführen lassen?
Cingulärer Cortex
Cingulärer Cortex/Cortex cingularis/cingulate cortex
Ein Bestandteil des präfrontalen Cortex, der sich auf der Stirnseite des Gehirns befindet. Wie ein halber Donut windet sich der cinguläre Cortex um den Balken. Funktionell gehört er zum limbischen System, das triebgesteuerte Verhaltensweisen reguliert.
Insellappen
Insellappen/Lobus insularis/insula
Der Insellappen ist ein eingesenkter Teil des Cortex (Großhirnrinde), der durch Frontal-, Temporal– und Parietallappen verdeckt wird. Diese Überlagerung wird Opercula (Deckel) genannt. Die Insula hat Einfluss auf die Motorik und Sensorik der Eingeweide und gilt in der Schmerzverarbeitung als Verbindung zwischen kognitiven und emotionalen Elementen.
Schuldfähigkeit
Schuldfähigkeit/-/responsibility
In neuroethischem Kontext ergibt sich das Thema „Schuldfähigkeit“ aus der Frage, ob der Mensch einen freien Willen besitzt: Nur wenn jemand eine Handlung aus freien Stücken begeht, lässt sich diese auch moralisch bewerten. Einige führende Neurowissenschaftler argumentieren auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse, der Mensch besitze keinen freien Willen. Demnach seien selbst Straftäter nicht für ihre Handlungen verantwortlich. Würde sich diese Denkweise durchsetzen, so hätte dies neben moralischen auch erhebliche juristische Auswirkungen.
Veränderte Gehirne – verändertes Verhalten
Schon seit geraumer Zeit machen sich Wissenschaftler im Gehirn auf die Suche nach den Spuren des Bösen. So etwa bei Psychopathen, gelten sie doch als Prototyp des kaltblütigen Killers: Sie sind berechnend, manipulieren geschickt und kennen weder Furcht noch Mitleid. Und das wollen Forscher auch im Oberstübchen erkennen. Kent Kiehl etwa, von der University of Mexico, untersucht seit Jahren Psychopathengehirne. Er hat festgestellt: Ihr paralimbisches System ist defekt. Das hufeisenförmige Gebilde tief im Gehirn, das neben der Amygdala auch die Insula, den cingulären und den orbitofrontalen Cortex umfasst, ist bei Psychopathen auffallend inaktiv. Mitgefühl und Angst sucht man daher vergebens. Psychopathen: Eine Welt ohne Empathie
Verdachtsmoment Nummer zwei: Ein anderes Störungsbild, ein anderer Defekt. Das Urbach-Wiethe-Syndrom, eine seltene Erbkrankheit, geht unter anderem mit einer Verkalkung der Amygdala einher. Die Betroffenen gelten als „gefühlskalt“, sie können Emotionen nur schwer erkennen und verarbeiten. So kennt beispielsweise eine amerikanische Betroffene mit den Initialen SM keine Furcht und vermag diese auch bei ihrem Gegenüber nicht zu identifizieren. Andere Fallberichte erwähnen Persönlichkeitsveränderungen und beschreiben Betroffene als impulsiv und enthemmt und mit eingeschränktem Urteilsvermögen.
Der Psychologe Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld untersuchte im Jahr 2003 zehn Probanden mit dieser Störung und stellte fest: Sie waren nicht in der Lage, Emotionen aus Gesichtern zu lesen. Konfrontierte man sie beispielsweise mit einer weinenden Frau im gelb-schwarz geringelten Kleid, so vermochten sie sich später zwar an das auffällige Muster der Bekleidung erinnern, nicht aber daran, ob die Frau fröhlich oder traurig war.
Verdachtsmoment Nummer drei: Schäden im Frontalhirn, insbesondere im präfrontalen Cortex, gehen mit Persönlichkeitsveränderungen einher, wie emotionaler Verflachung, Triebenthemmung oder Pseudopsychopathie, der Missachtung sozialer Normen. Das zeigt etwa der berühmte historische Fall von Phineas Gage (siehe Info-Kasten). Oder der Fall eines vierzigjährigen Familienvaters, den die US-Neurologen Jeffrey Burns und Russel Swedlow, heute beide an der University of Kansas, im Jahr 2003 beschrieben. Der Mann wurde verurteilt, weil er sich plötzlich seinen eigenen Kindern gegenüber pädophil verhielt. Später entdeckten Ärzte einen großen Tumor in seinem rechten Stirnhirn. Nach der OP verschwand seine pädophile Neigung.
Und die frontotemporale Demenz, bei der Stirnhirn und Schläfenlappen degenerieren, wandelt normale Bürger zu antisozialen Störenfrieden. Die Betroffenen neigen urplötzlich zu Exhibitionismus, beginnen zu klauen oder werden gewalttätig.
Amygdala
Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala
Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.
Orbitofrontaler Cortex
Orbitofrontaler Cortex/-/orbitofrontal cortex
Windung im Bereich des orbitofrontalen Cortex der Großhirnrinde, die sich anatomisch etwa hinter den Augen befindet. Der orbitofrontale Cortex spielt eine entscheidende Rolle bei der Entscheidungsfindung und der Überwachung sozialer Interaktionen und entsprechend komplex ist er aufgebaut. Insgesamt besteht er aus vier verschiedenen Substrukturen: der mediale, laterale, anteriore und der posteriore Gyrus orbitalis sowie der Gyrus rectus.
Empathie
Empathie/-/empathy
Der Begriff „Empathie“ geht auf das altgriechische Wort für „Leidenschaft“ zurück. Heute versteht man unter Empathie das Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen und deren Gefühle, Gedanken und Handlungsweisen nachzuvollziehen. Die physiologische Basis dafür sehen viele Neurowissenschaftler in den Spiegelneuronen: Nervenzellen, die beim Beobachten einer Handlung ebenso aktiv sind wie bei deren Ausführung.
Emotionen
Emotionen/-/emotions
Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.
Präfrontaler Cortex
Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex
Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.
Temporallappen
Temporallappen/Lobus temporalis/temporal lobe
Der Temporallappen ist einer der vier großen Lappen des Großhirns. Auf Höhe der Ohren gelegen erfüllt er zahlreiche Aufgaben – zum Temporallappen gehören der auditive Cortex genauso wie der Hippocampus und das Wernicke-Sprachzentrum.
Viele Spuren – wenig Aussagekraft
„Wir kennen eine ganze Reihe von Gehirnregionen, die bei auffällig antisozialem oder gewaltbereitem Verhalten eine Rolle spielen“, sagt Markowitsch. Allerdings: Bis auf einige Sonderfälle, wie etwa dem pädophilen Familienvater, dem ein Tumor aufs Stirnhirn drückte, sagt ein Bild des Täterhirns für die Rechtslage erstmal gar nichts. „Man kennt bislang keine Muster, nach denen man Gehirne in Sachen Schuldfähigkeit beurteilen könnte“, sagt Grischa Merkel, Rechtswissenschaftlerin an der Universität Greifswald. „Zudem ist jedes Gehirn einzigartig – man kann es nur bedingt mit anderen vergleichen.“
Skepsis ist auch in Sachen Lügendetektion per fMRT geboten. Zwar zeigt mittlerweile eine ganze Reihe von Studien, dass beim Lügen das anteriore Cingulum sowie Regionen des Frontalhirns auffallend aktiv sind. Es koste das Gehirn zusätzliche Energie und das mache sich im fMRT bemerkbar, folgert etwa der US-Forscher Daniel Langleben von der University of Pennsylvania. Doch handelt es sich bei den bunten Hirnbildern um Tendenzen, ermittelt auf der Basis von Probandengruppen – verlässliche Rückschlüsse auf den Einzelnen lassen sie nicht zu.
Zudem weisen die Studien methodische Fehler auf: „Langleben und Kollegen gehen davon aus, dass die ehrliche Antwort dem Grundzustand des Gehirns entspricht“, kritisiert Stephan Schleim, Kognitionswissenschaftler an der Universität Groningen. „Lüge würde demnach vor allem in der Unterdrückung der Wahrheit und verstärkter Kontrolle der Antwort bestehen.“ Außerdem bezweifelt er, ob die Studienergebnisse der Realität wirklich standhalten können: Schließlich wurden die Probanden zum Lügen aufgefordert.
Präfrontaler Cortex
Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex
Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.
Schuldfähigkeit
Schuldfähigkeit/-/responsibility
In neuroethischem Kontext ergibt sich das Thema „Schuldfähigkeit“ aus der Frage, ob der Mensch einen freien Willen besitzt: Nur wenn jemand eine Handlung aus freien Stücken begeht, lässt sich diese auch moralisch bewerten. Einige führende Neurowissenschaftler argumentieren auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse, der Mensch besitze keinen freien Willen. Demnach seien selbst Straftäter nicht für ihre Handlungen verantwortlich. Würde sich diese Denkweise durchsetzen, so hätte dies neben moralischen auch erhebliche juristische Auswirkungen.
Anteriorer cingulärer Cortex
Anteriorer cingulärer Cortex/Cortex cingularis anterior/anterior cingulate cortex
Der vordere Bereich des cingulären Cortex (Gyrus cinguli oder cingulärer Gyrus) spielt nicht nur bei autonomen Funktionen wie Blutdruck und Herzschlag eine Rolle, sondern auch bei rationalen Vorgängen wie der Entscheidungsfindung. Zudem ist dieser Hirnbereich in emotionale Prozesse involviert, beispielweise in die Kontrolle von Impulsen. Anatomisch zeichnet sich der anteriore cinguläre Cortex (ACC) dadurch aus, dass er eine große Zahl von Spindelneuronen besitzt. Diese speziellen Nervenzellen haben eine lange, spindelförmige Struktur und wurden bisher nur bei Primaten, einigen Wal– und Delfinarten sowie bei Elefanten gefunden. Spindelneurone tragen zu der Fähigkeit dieser Arten bei, komplexe Probleme zu lösen.
Präfrontaler Cortex
Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex
Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.
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Schuldig aber krank
Hinweise auf Lügen, Verbrechen und Gewalt gibt es im Gehirn demnach viele. Einen echten Nutzen vor Gericht haben sie eher nicht. Diese Einschätzung teilt auch US-Hirnforscher Michael Gazzaniga von der University of California in Santa Barbara. Befragt, was Psychiater im Gehirn eines Verbrechers sehen könnten, sagte er gegenüber dem Spiegel: „Mag sein, dass sie irgendetwas finden: Die Frage ist nur: Was sagt uns das?“ So zeigten Versuche zwar, dass Menschen mit schweren Schäden im präfrontalen Cortex eine etwa dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, gewalttätig zu werden. Aber davon gäbe es viele. „Wollen wir denen allen eine eingebaute Entschuldigung zugestehen?“
Ganz so einfach macht es sich die Rechtsprechung freilich nicht: „Ein Hirnscan oder ein anderer neurologischer Befund alleine reicht vor Gericht nicht aus, um die Schuldfähigkeit zu klären“, betont Rechtswissenschaftlerin Merkel (siehe Info-Kasten). Der Richter mache sich ein umfassendes Bild unter Berücksichtigung aller Fakten. „Aber natürlich kann etwa ein Verteidiger solche Aufnahmen hinzuziehen, wenn er auf Schuldunfähigkeit plädiert.“ So wie bei den erwähnten italienischen Mördern.
Oder wie im Fall des Norwegers Andreas Behring Breivik. Der Mann, der im Sommer 2011 bei zwei Attentaten insgesamt 77 Menschen tötete, wurde für unzurechnungsfähig erklärt – ganz ohne Hirnscan übrigens. Aber ist er deswegen unschuldig? Gazzaniga verneint: „Ich würde es umdrehen: Schuldig aber krank.“
Wie aber soll die Gesellschaft mit derart kranken Straftätern umgehen? Hierzulande lautet die Antwort meist forensische Psychiatrie, auch Maßregelvollzug genannt. „Dieses Urteil fürchten Täter in der Regel mehr als eine normale Haftstrafe“, sagt Markowitsch. „Forensik geht mit einer enormen Stigmatisierung einher, und die Verurteilten wissen nicht, wann und ob sie jemals wieder auf freien Fuß kommen.“ Das hängt nämlich nicht vom Strafmaß ab, sondern vom zuständigen Psychiater. Wer als unheilbar krank und dabei noch als gefährlich gilt, sitzt unter Umständen für immer. Auf den Maßregelvollzug kann bei vermindert Straffähigen die Sicherungsverwahrung folgen – ein Schicksal, das auch schuldfähigen Tätern blüht, die zwar nicht als krank, aber als besonders gefährlich gelten.
„Lange Zeit wurden diese Menschen einfach weggesperrt“, sagt Grischa Merkel. „Ein unhaltbarer Zustand, den das Bundesverfassungsgericht im letzten Jahr für verfassungswidrig erklärt hat.“ Jetzt muss der Gesetzgeber für ein umfassendes Therapieangebot sorgen. „Ein Straftäter kann sich nur ‘bessern’, wenn sich in seinem Leben etwas ändert“, erklärt Merkel. „Sitzt er seine Zeit nur ab, ist weder ihm noch der Gesellschaft geholfen.“
Präfrontaler Cortex
Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex
Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.
Schuldfähigkeit
Schuldfähigkeit/-/responsibility
In neuroethischem Kontext ergibt sich das Thema „Schuldfähigkeit“ aus der Frage, ob der Mensch einen freien Willen besitzt: Nur wenn jemand eine Handlung aus freien Stücken begeht, lässt sich diese auch moralisch bewerten. Einige führende Neurowissenschaftler argumentieren auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse, der Mensch besitze keinen freien Willen. Demnach seien selbst Straftäter nicht für ihre Handlungen verantwortlich. Würde sich diese Denkweise durchsetzen, so hätte dies neben moralischen auch erhebliche juristische Auswirkungen.
Bildgebung für gezielte Therapie
Gerade hier könnten sich bildgebende Verfahren künftig als nützlich erweisen. Etwa um einen Therapiefortschritt zu dokumentieren oder um die richtige Behandlungsstrategie zu wählen. So folgert Jorge Ponseti, Psychologe und Psychotherapeut an der Universität Kiel, Anfang 2012 aus einer fMRT-Studie, dass sich Pädophilie im Hirnscan an spezifischen Mustern erkennen lasse. Studien seiner Gruppe sowie eines Teams der Universität Essen zeigen: Das Belohnungssystem von Probanden wird immer dann aktiv, wenn sie Bilder sehen, die ihrer sexuellen Neigung entsprechen – egal, ob hetero, homo oder pädophil.
Jetzt ist es Forschern um Ponseti gelungen, anhand der Aktivierungsmuster im fMRT unter insgesamt 56 Probanden, pädophile Studienteilnehmer zu erkennen. Nur bei 3 der 24 Betroffenen irrten sie sich. Das könne künftig helfen, die richtige Behandlung zu wählen, glaubt der Forscher. Jemand, der sich in einer Art Ersatzhandlung an Kindern vergreift, braucht eine andere Therapie als Personen mit ausgeprägter pädophiler Neigung. Bei ihnen gilt es, die Selbstkontrolle zu stärken, damit sie ihrem Trieb nicht nachgeben.
Für Rechtswissenschaftlerin Merkel lauert hier aber auch Gefahr: „Wir dürfen nicht dazu übergehen, vermeintlich ‘gefährliche Gehirne‘ zu verurteilen und wegzusperren.“ Nur weil jemand eine pädophile Neigung habe, müsse er sich noch lange nicht an Kindern vergreifen. Ebenso wenig wie ein Psychopath zwangsläufig zum Killer wird.
Für den Bielefelder Psychologen Markowitsch steht dennoch fest, dass die Hirnforschung künftig in der Rechtsprechung ihren festen Platz einnehmen wird. „Vor hundert Jahren gab es noch keine psychologischen Gutachten, und so selbstverständlich wie sie heute sind, werden eines Tages neurologische Befunde sein.“ Aber er wünscht sich noch etwas anderes von den Erkenntnissen der Hirnforschung: Die Einsicht, wie wichtig Prävention ist. „Gewalt und traumatische Erfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn“, sagt Markowitsch. „Unsere Kinder davor zu schützen und sie zu gewaltfreiem Miteinander erziehen, vermeidet neurologische Schäden, die später vielleicht antisoziales oder aggressives Verhalten fördern.“
Mesolimbisches System
Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway
Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.
zum Weiterlesen:
- Müller, J. : Neurobiologie forensisch relevanter Störungen. Kohlhammer Verlag, 2010.
- Müller, J. L., et al (Hrsg.): Sicherungsverwahrung — wissenschaftliche Basis und Positionsbestimmung. Was folgt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 04.05.2011? MWV Verlag, 2012.
- Ponseti, J. et al.: Assessment of Pädophilia Using Hemodynamic Brain Response to Sexual Stimuli. In: Archives of General Psychiatry. 2012; 69 (2):187 – 194 (zum Abstract).
- Schleim, S.: Die Neurogesellschaft: Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert. Heise Medien, 2010.
- Siebert, M. et al.: Amygdala, affect and cognition: evidence from 10 Patients with Urbach-Wiethe disease. Brain. 2003; 126 (12):2627 – 2627 (zum Text).
Spannender, kontroverser Artikel!