Moral in Zeiten der Hirnforschung
Rechtsanwälte interpretieren Hirnscans von Verbrechern vor Gericht, neurowissenschaftliche Studien scheinen die Existenz des freien Willens in Frage zu stellen: Die Hirnforschung greift immer stärker in unsere Vorstellungen von Moral und Schuld ein.
Scientific support: Prof. Dr. Kai Vogeley
Published: 21.05.2012
Difficulty: easy
- Moralisches Verhalten ist die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens in sozialen Gruppen. Und doch gibt es immer wieder Fälle von unmoralischem Verhalten, etwa bei Verbrechen.
- Die Hirnforschung sucht im Gehirn nach bestimmten Aktivierungsmustern bei moralischen Entscheidungen. Es zeigt sich, dass ein ganzes Netzwerk von Arealen beteiligt ist, das aber auch bei anderen Entscheidungen eine Rolle spielt.
- Abweichungen von üblichen Aktivierungsmustern könnten auf Abweichungen moralischen Verhaltens schließen lassen. Diese Übertragung aber ist kompliziert und im Einzelfall bislang nicht belastbar.
- Eine grundlegende Frage ist die nach dem freien Willen. Sie betrifft auch die Rechtsprechung. Studien haben relevante Hirnaktivität vor der eigentlichen Entscheidungsfindung nachgewiesen.
- Diese Ergebnisse sprechen aber nur dann gegen einen „freien Willen“, wenn man einen starken Dualismus zwischen „Ich“ und Gehirn annimmt.
Seit Menschen in Gruppen miteinander leben, machen sie sich Gedanken um ein gutes und gelingendes Miteinander. Gemeinschaften stellen Regeln auf, geben sich Gesetze und Normen: „Du sollst nicht töten“ etwa oder „Du sollst nicht lügen“. Und doch geschehen Morde, und doch lügen wir. Dieser Widerspruch zwischen ethischem Anspruch und individuellem Tun hat Forscher und Philosophen schon seit jeher irritiert und fasziniert. Theorien moralischen Handelns wurden ersonnen, Abhandlungen und Bücher geschrieben, die in großen Bibliotheken ganze Wände füllen. Und doch blieb das menschliche Gebaren immer rätselhaft.
Nun macht sich auch die Hirnforschung daran, dieses Mysterium zu lösen. Mit bildgebenden Verfahren und ausgeklügelten Versuchsaufbauten blicken Wissenschaftler ihren Probanden bei moralischen Entscheidungen ins Gehirn. Sie hoffen, in der Aktivität der Nervenzellen bestimmte Muster und Regelmäßigkeiten auszumachen, die eine Aussage über die biologischen Mechanismen moralischer Konzepte und Überzeugungen ermöglichen. Eine Art Neurowissenschaft der Ethik hat sich entwickelt, vielfach auch kurz Neuroethik genannt.
Das stößt durchaus auf Kritik. Denn hinter dem Schlagwort Neuroethik steckt mehr als eine Suche nach Erklärungen, wie sie die Grundlagenforschung anstrebt. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über das menschliche Selbstbewusstsein, über moralisches und vor allem unmoralisches Verhalten finden in atemberaubendem Tempo ihren Weg in den Alltag. Firmen bieten bereits Methoden zur Lügenerkennung mit Hilfe von Hirnscannern an, Anwälte legen Aktivitätsmuster des Gehirns von Angeklagten vor, um deren Schuldunfähigkeit zu beweisen.
Das wirft immer neue Fragen auf: Lassen sich aus den vielen, oft widersprüchlichen Ergebnissen der Wissenschaft auf dem Gebiet der Neuroethik wirklich alltagstaugliche Schlüsse ziehen? Eignen sich Magnetresonanztomografen, um zweifelsfrei Lügner oder Straftäter zu entlarven? Und wenn ja, darf man solche Erkenntnisse zum Beispiel vor Gericht verwenden?
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Das Gehirn als Sitz der Moral
Eine erste Annäherung an die Problematik wagen die Forscher mit der Suche nach einem Sitz der Moral im Gehirn. Zahlreiche Fälle von Hirnschädigungen zeigten bereits früh, dass bestimmte Verletzungen ein vermindertes Verständnis oder eine eingeschränkte Fähigkeit moralischen Verhaltens bedingen. Am berühmtesten ist wohl der Fall des Eisenbahnarbeiters Phineas Gage: Bei einem Unfall im Jahr 1848 wird ihm eine Metallstange in Kopf und Stirnhirn getrieben. Er überlebt, doch seine Persönlichkeit ist verändert: Der vorher als ruhig und umgänglich beschriebene Mann wird plötzlich grob, respektlos, verliert die Achtung vor den Kollegen. Die Hirnverletzung hat seinen Charakter und auch seinen sozialen Umgang verändert.
Bis heute ist nicht klar, in welchem Ausmaß Gages Gehirn bei dem Unfall verletzt wurde, und ob der Mann nicht auch durch andere Ereignisse oder Erlebnisse zu dem Menschen wurde, der er später war. So könnte eine spätere Entzündung des Gehirngewebes die Impulsivität des Mannes verursacht haben. Das Interesse am Fall Phineas Gage zeigt aber damals wie heute, wie groß der Wunsch ist, den Zusammenhang von Hirntätigkeit und Persönlichkeit und eben auch Moral zu verstehen.
Die Neurowissenschaftler untersuchen zunächst gesunde Versuchsteilnehmer: In einem Magnetresonanztomografen liegend müssen sie kniffelige moralische Probleme lösen, während Forscher aufzeichnen, welche Hirnareale dabei aktiv werden. Das Ergebnis ist ernüchternd, wie der Journalist Christian Wolf in seinem Artikel recherchierte: Einen zentralen „Sitz der Moral“ gibt es offenbar nicht. Stattdessen sind zahlreiche Netzwerke aktiv – sicherlich auch, weil moralische Entscheidungen bisweilen zu den komplexesten gehören, die wir im Leben treffen müssen. Das (a)moralische Gehirn
Präfrontaler Cortex
Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex
Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.
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Von Psychopathen und Straftätern
Und doch finden sich bei manchen Menschen auffällige Abweichungen von der Norm. Das Gehirn von Psychopathen etwa zeigt oft charakteristisch andere Aktivierungsmuster als als das von Kontrollpersonen, wie der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer in einem Vortrag auf dem Nürnberger Symposium „Turm der Sinne“ berichtete. Genauer gesagt: Ihr Gehirn ist in spezifischen Bereichen „stiller“. Zudem sind Teile der Hirnrinde des Stirnlappens und der Mandelkern verkleinert. Gleichzeitig registrieren Forscher bei Psychopathen ein deutlich verringertes Furchtempfinden. Das könnte ihr antisoziales Verhalten bedingen. Niels Birbaumer: Behandlung von Psychopathen mit Neurofeedback
Auch bei anderen sozial auffälligen Straftätern und bei gewalttätigen Menschen haben Hirnscans Besonderheiten ans Licht gebracht. Doch was bedeutet das für die Praxis? Sind Personen mit einer spezifischen Hirn-Aktivität vor Gericht anders zu bewerten? Dieser heftige Disput wird nicht allein zwischen Forschern geführt. Denn längst gibt es erste Kriminalfälle, in denen die Hirnscans von Angeklagten als Beweismittel zugelassen wurden. In Italien etwa bekamen bereits mehrere Delinquenten aufgrund solcher „Beweise“ mildernde Umstände zugesprochen. Das Gehirn vor Gericht
Die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Adelheid Kastner, die in Österreich schon oft als Gutachterin vor Gericht zu Rate gezogen wurde, sieht diese Entwicklung kritisch. Zum einen seien die Fallzahlen von gescannten Gehirnen noch immer viel zu klein, um wirklich relevante Abweichungen erkennen zu können. Zum anderen wisse man nicht, wie viele Bürger ein unbescholtenes Leben führen – obwohl ihr Gehirn dieselben Aktivitätsmuster zeigt, die bei Straftätern als Wurzel ihres kriminellen oder gewalttätigen Verhaltens herhalten sollen. Sie plädiert daher in einem Vortrag, der in gekürzter Form bei dasGehirn.info erscheint, für Vorsicht bei der Anwendung neurowissenschaftlicher Studien im Gerichtssaal. Adelheid Kastner: Verbrecher nicht auf Hirnprozesse reduzieren
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Frontallappen
Frontallappen/Lobus frontalis/frontal lobe
Der frontale Cortex ist der größte der vier Lappen der Großhirnrinde und entsprechend umfassend sind seine Funktionen. Der vordere Bereich, der so genannte präfrontale Cortex, ist für komplexe Handlungsplanung (so genannte Exekutivfunktionen) verantwortlich, die auch unsere Persönlichkeit prägt. Seine Entwicklung (Myelinisierung) braucht bis zu 30 Jahren und ist selbst dann noch nicht ganz abgeschlossen. Weitere wichtige Bestandteile des frontalen Cortex sind das Broca-Areal, welches unser sprachliches Ausdrucksvermögen steuert, sowie der primäre Motorcortex, der Bewegungsimpulse in den gesamten Körper aussendet.
Amygdala
Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala
Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.
Freier Wille oder nicht?
Jenseits dieser Diskussionen rütteln die Erkenntnisse der Hirnforschung zum Denken und Handeln grundlegend am gängigen Menschenbild. Inwieweit verfügt Homo sapiens überhaupt über einen freien Willen? Sind Entscheidungen und Verhalten am Ende allein durch Gehirn und Neurobiologie determiniert?
Der Neurophysiologe Benjamin Libet warf diese Frage während seiner Forschung zu den neuralen Korrelaten des Bewusstseins indirekt bereits in den 1980er Jahren auf: Der Forscher bat Versuchspersonen, ihre rechte Hand zu bewegen. Den Zeitpunkt dafür durften sie selbst bestimmen. Libet verfolgte dabei die Aktivität in ihrem Gehirn – und machte sie bereits aus, bevor die Probanden sich ihrer eigenen Handlungsabsicht bewusst waren. Im Laufe der Jahre bestätigten ähnliche Experimente Libets Ergebnisse. Sollten sie das Aus für den freien Willen sein?
Eine rege Debatte entflammte darüber, welche Schlussfolgerungen diese Beobachtungen erlauben – und welche eben nicht. So ist es denkbar, dass die Versuchsaufbauten für die Fragestellung nicht korrekt ausgerichtet waren: Dass sie zwar eine Willensentscheidung überprüften, die übergeordnete Entscheidung aber, am Versuch teilzunehmen, davon unbefangen blieb. Andere Experten, darunter der Philosoph Ansgar Beckermann von der Universität Bielefeld, kritisieren, dass ein Dualismus von Gehirn und Geist angenommen wird, wenn zwischen „Ich“ und “Gehirn“ in dieser Weise unterschieden wird. Die Annahme eines Dualismus ist für neurowissenschaftliche Forschung aber nicht zwingend, sodass hier möglicherweise ein Scheinproblem erzeugt worden ist. Frei oder nicht frei?
Und so zeigt sich: Zwar hat die Suche nach moralischem Verhalten im Gehirn zahlreiche interessante Ergebnisse gebracht. Doch die grundlegenden Fragen danach, warum mancher sich an die gesellschaftlichen Normen hält, während ein anderer darauf pfeift, sind noch immer ungeklärt. Oder wie Adelheid Kastner so schön sagt: „Es ist alles sehr kompliziert.“
danke für den Kommentar. In der Tat ist es fraglich, ob die Neurowissenschaft bei der Frage, warum ein Mensch auf bestimmte moralische Normen pfeift, weiterhelfen kann. Der Disput darüber wird im obigen Artikel ja beschrieben. Doch sie haben die relevante Unterscheidung selbst benannt: Erst einmal geht es darum, zu erkennen, wer sich mit Wille und Bewusstsein an Normen hält oder nicht, und wem dies trotz seines Willens eben nicht gelingt, weil etwa sein Gehirn verändert ist. Aus diesen Erkenntnissen wollen die Forscher dann Ableitungen zur Funktionsweise von Moral im Gehirn von Gesunden machen. Was diese dann letztlich aussagen, steht auf einem anderen Blatt – hier sind die Ansichten selbst der Experten (und auch von Philosophen) sehr unterschiedlich, wie auch im Artikel dargestellt wird.
da sind im Ausgangspunkt des Forschens schon einige sachlich verkehrte Grundannahmen unterwegs, die zumindest etliche Fragen erübrigen würden, von denen in Ihrer Antwort ja auch noch einmal die Rede ist.
Ein Mensch will sich nicht inhaltslos an irgendwelche Regeln halten. Sein Wille ist durch seinen Inhalt bestimmt. Er will etwas. (Essen, Kino, Musik hören, etc.) Und dabei ist er von Gesellschafts wegen etlichen Regeln unterworfen. Und allein daran hat sich sein konkreter Wille zu relativieren. Wenn er seinen Willen im Rahmen dieser Normen durchsetzen kann, ist alles prima. Wenn er Essen klaut, will er essen, kommt aber mit dem Gesetz in Konflikt. Wieso er sich zum Klauen entschieden hat, liegt in seinen Berechnungen, sein Geist war tätig, er kommt zu einer willentlichen Entscheidung auf Grundlage dieser Berechnungen. All diese Bestimmungen kann ich aber diesseits des Geistes machen, erschöpfend und muss mir nicht die biologische Grundlage des Denkens anschauen, das ist ein sachlicher Fehler, weil eben Geist nicht Hirn ist. Moral und Regeln sind nicht Natur. Sie sind Produkte von Geist. Und der Hirngeschädigte hat entweder einen Willen auf Grundlage von geistiger Tätigkeit oder er hat gar keinen Willen. Die Schädigungen und die Auswirkungen auf das Denken (Beeinträchtigungen) sind sicherlich zu untersuchen und das daraus folgende Verhältnis zu Bewusstsein, aber die Bestimmungen von Willen, Moral, etc sind nicht mit Hirnscannern etc. zu leisten sondern nur durch Denken. Moral ist nicht im Gehirn zu finden. Diese Verwechslung bzw. Identifizierung ist bei einigen Forschern (Experten und Philosophen) systematisch und systematisch verkehrt.
Aber Geist benützt das Gehirn für seine Zwecke.
Umgekehrt geht es nicht. Wenn das Gehirn beschädigt ist, hat der Geist keine Chance.