Wenn das Kriegstrauma zurückkommt
Schreckliche Dinge haben viele Menschen im Zweiten Weltkrieg erleiden müssen. Neue Forschung zeigt, dass besonders im Alter die Erinnerungen daran zurückkehren und damit auch viele Leiden verknüpft sind.
Scientific support: Prof. Dr. Rüdiger Mielke
Published: 22.07.2013
Difficulty: intermediate
- Sehr viele Menschen in Deutschland wurden im Zweiten Weltkrieg durch Verfolgung, Bombardierung, Vertreibung, Vergewaltigung oder Kampfhandlungen traumatisiert. Manche von ihnen entwickelten später eine posttraumatische Belastungsstörung.
- Kriegstraumata können besonders im Alter wieder neue Leiden auslösen. Man spricht dann von einer Trauma-Reaktivierung.
- Mögliche Gründe für eine Trauma-Reaktivierung im Alter: In hohen Jahren hat man nicht mehr so viel Arbeit, die einen von Erinnerungen ablenken würde. Außerdem erlebt man durch Krankheit lebensbedrohliche Situationen, die Ereignisse von damals zurückbringen. Einige Alte wollen zudem noch vor dem Tod ihre schrecklichen Erinnerungen aufarbeiten.
- Eine PTBS verändert das Gehirn: Vor allem gibt es eine verstärkte Aktivität der Amygdala, die für den Alarm im Kopf zuständig ist. Cortex-Bereiche, die bei Gesunden die Furchtreaktion kontrollieren, sind bei PTBS-Patienten weniger aktiv.
Belastungsstörung
Belastungsstörung/-/stress disorder
Als Belastungsstörung wird in der Psychologie die pathologische Reaktion auf dauerhaften oder kurzfristig sehr hohen Stress bezeichnet. Unterschieden werden die akute Belastungsstörung – oft als Nervenzusammenbruch bezeichnet – und die posttraumatische Belastungsstörung nach einem traumatischen Erlebnis. Sie kann noch lange Zeit nach dem eigentlichen Stressereignis schwerwiegende Folgen haben.
Der Mann bekommt nicht richtig Luft. Er geht von einem Arzt zum anderen, doch keiner findet eine Ursache, sein Körper ist gesund. Die Atemnot hat der Mann, seitdem er mit seinem Wagen beinahe einen Unfall auf der Autobahn gehabt hätte. Der Psychosomatik-Arzt Gereon Heuft vom Uniklinikum Münster erzählt diese Geschichte, um ein Thema seiner Forschungen zu verdeutlichen: Die Trauma-Reaktivierung.
Heuft spricht lange mit dem Atemnot-Patienten. Irgendwann berichtet der von einem Erlebnis kurz vor dem Kriegsende 1945. „Das hat er vollkommen unbeteiligt erzählt, als würde er aus der Zeitung vorlesen“, erinnert sich der Arzt. Der Mann gehörte zum so genannten Volkssturm. Das war das letzte Aufgebot, mit dem Adolf Hitler sein untergehendes NS-Régime noch zu retten versuchte. Neben Greisen wurden dafür vor allem Jungen ab 16 Jahren einberufen. Der Mann mit der Atemnot war damals Jugendlicher, er sollte mit seiner Einheit anrückende amerikanische Truppen aufhalten. Sie schießen so lange, bis ein Jeep brennt. Daraufhin fahren mehrere US-Panzer auf die Volkssturm-Jungs zu, rollen über ihren Schützengraben und drehen auf der Stelle. Ein Kamerad stirbt. „Mein Patient hatte damals Todesangst, er glaubte, sein Freund würde ersticken“, sagt Heuft. „Dann kommt Jahrzehnte später der Beinahe-Unfall. Das bringt die Angst von damals zurück, auch der Körper erinnert sich, das war wohl der Grund für seine Atemnot.“ Nach einer psychodynamischen Psychotherapie zum Trauma konnte der Mann wieder normal Luft holen.
Lebensbedrohliche Situationen lösen das Trauma aus
Sehr viele Menschen, die vor 1945 in Deutschland geboren wurden, haben schreckliche Dinge im Zweiten Weltkrieg erlebt. Die verfolgten Bevölkerungsgruppen – Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle – waren ständig in Gefahr, im Holocaust ermordet zu werden. Doch auch die anderen Bewohner Deutschlands, egal ob Kinder, Täter, Mitläufer oder NS-Gegner, erlitten lebensbedrohliche Situationen: Bombennächte, Vertreibung, Vergewaltigungen – und Kampfhandlungen wie die des Volkssturm-Jungen. Je nach Altersgruppe haben bis zu 60 Prozent von ihnen kriegsbedingte Traumata erlebt, hat die Psychotherapeutin Heide Glaesmer vom Uniklinikum Leipzig in einer Studie aus dem Jahr 2005 ermittelt. „Die am meisten Belasteten leben heute nicht mehr“, sagt die Forscherin. Viele von ihnen wurden in den Jahren nach Kriegsende von den Erinnerungen gepeinigt, heute würde man das als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder englisch post-traumatic stress disorder (PTSD), diagnostizieren. (Echo des Grauens)
Nach 1945 wurde nicht groß auf solche psychischen Befindlichkeiten achtgegeben. Vielen gelang es, mit dem Arbeitseifer der Aufbauzeit die Symptome so weit zu verdrängen, dass ein halbwegs normales Leben möglich war. Doch irgendwann kommt bei vielen die Angst von damals zurück. Das hat der Psychosomatiker Heuft erstmals richtig deutlich in seiner Klinik bemerkt, als 1991 der erste Irakkrieg begann. Die USA bombardierten den Irak, um die Befreiung Kuwaits vorzubereiten. Viele Menschen in der westlichen Welt hatten Angst, dass sich der Konflikt ausweiten könnte, denn es war nicht klar, wie die im Untergang befindliche Sowjetunion reagieren würde. „Damals kamen sehr viele ältere Menschen mit starken psychischen Problemen in die Ambulanz“, erinnert sich Heuft. „Sie hatten die Angst: Jetzt geht es wieder los.“ Er begann eine Studie, die zeigte, dass sich bei vielen Menschen im Alter nach einem völlig gesunden Erwachsenenleben plötzlich Symptome entwickeln, die mit den zurückkommenden Erinnerungen verbunden sind. Er nannte das Phänomen Trauma-Reaktivierung. „Empirisch ist die Trauma-Reaktivierung noch nicht gut belegt, denn es fehlt eine umfassende Studie zu den Langzeitverläufen der posttraumatischen Beschwerden“, sagt die Psychotherapeutin Glaesmer. „Aber viele Mediziner berichten davon aus ihrer klinischen Praxis.“
Belastungsstörung
Belastungsstörung/-/stress disorder
Als Belastungsstörung wird in der Psychologie die pathologische Reaktion auf dauerhaften oder kurzfristig sehr hohen Stress bezeichnet. Unterschieden werden die akute Belastungsstörung – oft als Nervenzusammenbruch bezeichnet – und die posttraumatische Belastungsstörung nach einem traumatischen Erlebnis. Sie kann noch lange Zeit nach dem eigentlichen Stressereignis schwerwiegende Folgen haben.
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Die letzte Chance zur Aufarbeitung
Manchmal sind Ereignisse die Auslöser, die nicht direkt mit dem Alter zu tun haben – wie der Beinahe-Unfall des Mannes mit der Atemnot oder der erste Irakkrieg. Doch nach der Beobachtung von Heuft gibt es einige Dinge, durch die eine Trauma-Reaktivierung in späten Jahren wahrscheinlicher wird. „Im Alter hat man mehr Zeit, da kann man die Dinge nicht mehr abwehren“, sagt der Mediziner. Zudem bekommen einige Menschen zum Lebensende hin das Bedürfnis, sich endlich mit den schlimmen Erinnerungen aus der Jugend auseinanderzusetzen. Forscher sprechen vom „last chance syndrome“: Alte Menschen merken, dass jetzt ihre letzte Chance für eine Aufarbeitung gekommen ist.
Der psychisch bedeutsame Teil des Kriegstraumas ist, dem Tod ins Auge zu schauen und hilflos ausgeliefert zu sein, den Bomben oder den feindlichen Soldaten. Bei schweren Krankheiten können ähnliche Gefühle entstehen: Wenn ein älterer Patient zum Beispiel am Herzen operiert werden muss, dann besteht die Gefahr, dass er stirbt. Zudem ist er von dem Können der Ärzte abhängig. „Solch eine subjektive Bedrohungserfahrung im Alter kann auch eine Trauma-Reaktivierung auslösen“, sagt Heuft.
In ganz extremen Fällen kann gar ein neues Trauma entstehen. Zum Beispiel, wenn Pfleger einen dementen Patienten wegen eines Anfalls ans Bett fesseln. Auch das kann Symptome einer eigentlich überwundenen PTBS-Erkrankung neu aufbrechen lassen. Fachleute sprechen dann von einer Retraumatisierung: Ein zweites Trauma bringt das erste Trauma zurück – im Gegensatz zu der Trauma-Reaktivierung, bei der kein zweites Trauma stattgefunden hat.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Gestörtes Stresshormonsystem
Doch egal ob Trauma-Reaktivierung oder Retraumatisierung, die Rückkehr von belastenden Erinnerungen kann einen Patienten nur deshalb so treffen, weil das Gehirn bereits durch das erste traumatische Erlebnis verändert wurde. Was PTBS im Kopf anrichtet, ist in den letzten Jahrzehnten vielfach untersucht worden. Man weiß inzwischen, dass das Stresshormonsystem bei solchen Patienten durcheinander geraten ist, außergewöhnliche Belastungen können sie deshalb nicht mehr so gut bewältigen.
Forscher haben zudem die Aktivitäten im Gehirn gemessen, mit der funktionalen Magnetresonanztomografie (fMRT) und der Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Besonders eine Region ist bei PTBS-Patienten ungewöhnlich aktiv: die Amygdala. Sie spielt eine Schlüsselrolle beim Erkennen von Gefahren und auch bei der Koordinierung der Angstreaktion. Man könnte sie als Feueralarmknopf im Gehirn bezeichnen – und dieses Bild zeigt auch das Problem: Um nach einem Fehlalarm bald wieder normal arbeiten zu können, muss die Warnsirene schnell wieder abgeschaltet werden können. Im Gehirn ist dafür vor allem ein Bereich der Hirnrinde zuständig: der ventromediale präfrontale Cortex Doch ausgerechnet diese Region ist bei PTBS-Patienten deutlich weniger aktiv. Man könnte das so interpretieren: Bei ihnen geht der Alarm viel schneller an und er lässt sich viel schlechter wieder abschalten. Das würde auch erklären, warum Menschen auch noch im Alter von ihrem Kriegstrauma eingeholt werden können. Warum also immer eine Trauma-Reaktivierung droht.
Stresshormonsystem
Stresshormonsystem/-/stress hormone system
Bei der Stressantwort arbeiten das sympathische Nervensystem und eine Reihe von Hormondrüsen – der Hypothalamus, die Hypophyse und die Nebennierenrinde – zusammen, um den Organismus auf erhöhte Anforderungen vorzubereiten. Das sympathische Nervensystem nutzt die Hormone Adrenalin und Noradrenalin als Botenstoffe. Durch deren Aktivität steigen Atem– und Herzfrequenz an; gleichzeitig wird die Muskulatur besser durchblutet. Während der Stressreaktion schüttet die Nebennierenrinde das Hormon Cortisol aus, das als natürliche Bremse wirkt: Übersteigt die Konzentration an Cortisol im Blut einen Schwellenwert, so wird das parasympathische Nervensystem aktiviert, welches seinen Gegenspieler – das sympathische Nervensystem – dämpft.
Magnetresonanztomographie
Magnetresonanztomographie/-/magnetic resonance imaging
Ein bildgebendes Verfahren, das Mediziner zur Diagnose von Fehlbildungen in unterschiedlichen Geweben oder Organen des Körpers einsetzen. Die Methode wird umgangssprachlich auch Kernspin genannt. Sie beruht darauf, dass die Kerne mancher Atome einen Eigendrehimpuls besitzen, der im Magnetfeld seine Richtung ändern kann. Diese Eigenschaft trifft unter anderem auf Wasserstoff zu. Deshalb können Gewebe, die viel Wasser enthalten, besonders gut dargestellt werden. Abkürzung: MRT.
Positronen-Emissions-Tomographie
Positronen-Emissions-Tomographie/-/positron emission tomography
Ein bildgebendes Verfahren, mit dessen Hilfe Mediziner Stoffwechselvorgänge im Körper visualisieren können. Der Patient bekommt eine schwach radioaktive Substanz injiziert, die Positronen – also Beta-Strahlung – emittiert. Wenn die Positronen im Körper mit Elektronen zusammentreffen, wird Energie in Form von zwei Photonen freigesetzt. Diese streben in entgegengesetzte Richtungen auseinander. Im PET-Scanner sind rund um den Patienten Detektoren angeordnet, welche die auftreffenden Photonen registrieren. Auf diese Weise lässt sich nachverfolgen, ob sich die radioaktive Substanz in bestimmten Bereichen des Körpers anreichert, was beispielsweise Hinweise auf einen Tumor geben kann. Auch in der Frühdiagnostik von Demenzerkrankungen findet die Positronen-Emissions-Tomographie Anwendung. Die Strahlung ist medizinisch unbedenklich.
Amygdala
Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala
Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Präfrontaler Cortex
Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex
Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.
zum Weiterlesen:
- Glaesmer, H, Brähler, E: Die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Bevölkerung: Epidemiologische Befunde und deren klinische Bedeutung.
- Psychotherapeutenjournal 2011(4): 346 – 353 (zum Text).
- Pitman, RK et al: Biological studies of post-traumatic stress disorder. Nature Reviews Neuroscience 2012 (13), 769 – 787 (zum Text).
- Kriegskind.de e.V. Ein Projekt zur Therapie Kriegstraumatisierter; URL: www.kriegskind.de [Stand 22.7.2013]; (zur Webseite).