Fußball-WM 2014: Schritt aus dem Abseits
Sie trainieren Fußball wie die Profis: Geistig behinderte Menschen lernen durch Leistungssport, sich zu motivieren, im Team zu arbeiten und mit anderen zu kommunizieren. So machen sie sich fit für einen geregelten Job und ein selbstbestimmtes Leben.
Scientific support: Hubert R. Dinse
Published: 11.06.2014
Difficulty: intermediate
- Den Anstoß zum ersten Spiel der Fußball-Weltmeisterschaft soll ein querschnittgelähmter Mann geben – mit Hilfe einer Hirn-Computer-Schnittstelle und einem Exoskelett.
- Auch Menschen mit geistiger Behinderung können Fußball spielen: Es gibt sogar eine deutsche Nationalmannschaft.
- In Frechen bei Köln gibt es seit 2013 ein neues Fußball-Leistungszentrum für geistig zurückgebliebene Kicker. Aufgebaut wurde es von der Gold-Kraemer-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland, der Bundesagentur für Arbeit und den Gemeinnützigen Werkstätten Köln aufgebaut hat. Die Deutsche Sporthochschule Köln begleitet das Projekt wissenschaftlich. Die Sportler können zweimal pro Woche beim 1. FC Köln trainieren.
Einen Menschen allein aufgrund eines Intelligenztests als geistig behindert einzustufen, ist heutzutage umstritten. Die Tests werden zwar nach wie vor durchgeführt und zur Einstufung herangezogen, jedoch nicht mehr als alleinige Entscheidungsgrundlage. Zusätzlich wird auch das soziale Umfeld der betroffenen Person analysiert. Es gibt auch einige Krankheitsbilder, die jenem der geistigen Behinderung ähneln, denen aber gar keine neurologischen Ursachen zugrunde liegen, sondern psychologische – und somit therapierbar sind. Das gilt zum Beispiel für die Pseudodebilität von Kindern und Jugendlichen, ausgelöst etwa durch ein Kriegstrauma oder Vernachlässigung in jungen Jahren, oder für den Hospitalismus, der etwa infolge langer Inhaftierung, Heimaufenthalten oder Folter auftreten kann.
„Komm, komm, komm jetzt! Zieh durch! Sauber, guter Schuss!“ Vormittagstraining am Geißbockheim des 1. FC Köln. Trainer Malte Strahlendorf lächelt. Gerade hat einer seiner Schützlinge nach einer gelungenen Passfolge den Ball von außerhalb des Sechzehners mit vollem Karacho in den Torwinkel gezimmert – ein Schuss wie ein Strich. Lukas Podolski lässt grüßen. Allerdings: Bei diesem Training sind es nicht Lukas Podolski oder seine Nachfolger beim 1. FC, die über den Rasen rennen – sondern elf junge Männer mit geistiger Behinderung. Sie sind Teil eines neuen Projekts der Gold-Kraemer-Stiftung in Frechen bei Köln, einer Art Behindertenwerkstatt für Berufsfußballer. Zweimal die Woche dürfen sie auf dem Gelände des 1. FC Köln trainieren, der das Projekt unterstützt.
„Die Jungs“, wie Übungsleiter Strahlendorf die 19– bis 25-Jährigen nennt, schwitzen in rot-schwarzen Trikots in der warmen Frühlingssonne auf einem Kunstrasen-Platz im Kölner Grüngürtel. Sie sprinten, dribbeln, passen, schießen, feixen und lachen. Malte Strahlendorf, selbst erst 28 Jahre alt, gibt ab und zu Anweisungen: „Jungs, jetzt dort Hütchen aufstellen, bitte!“, ruft er mit norddeutschem Akzent. Strahlendorf kommt aus Schleswig-Holstein und hat an der Kölner Sporthochschule Sportwissenschaften studiert. Er leitet das Training abwechselnd mit Willi Breuer, der auch die erste Damenmannschaft des 1. FC Köln betreut und früher für die Fußball-Nationalmannschaft der geistig behinderten Sportler zuständig war.
Querschnittsgelähmte Fußballer bei der WM 2014 – geistig behinderte Kicker in Köln
Wenn am 12. Juni 2014 das Eröffnungsspiel der Fußball-WM in Brasilien startet, wird die Welt nicht nur bestaunen, wie der brasilianische Superstar Neymar die Gegner aus Kroatien nass macht. Sie wird auch staunen über den unbekannten jungen Mann, der den Anstoß ausführt: Er ist von der Hüfte abwärts gelähmt und steckt in einem so genannten Exoskelett, einer roboterartigen Prothese. Und diese steuert der junge Mann mit Hilfe einer Hirn-Computer-Schnittstelle (Thema Brain-Computer-Interface). Trotz seiner Behinderung kann er also laufen und kicken – vor 66.000 Zuschauern im Stadion von São Paolo und Hunderten Millionen am Fernseher. Ein großer Moment für den Behindertensport ist das: ein Zeichen dafür, dass die viel diskutierte Inklusion – also die soziale Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft – auch im und über den Sport funktioniert. Das Projekt in Köln zeigt derweil, dass nicht nur körperlich Versehrte sportlich gefördert werden, sondern es auch für geistig behinderte Menschen sportliche Konzepte gibt.
Es folgt eine Kurzpassübung: Die Spieler stellen sich in einer Reihe auf, einer steht abseits beim Hütchen, Pass hin, Pass zurück, Hütchen umkurven, erneut passen. Die Übung sitzt. Wer nicht weiß, dass hier Menschen mit geistiger Behinderung spielen, käme nicht darauf. Kein Wunder: Die Spieler sind bereits gute Fußballer. Sie sind anhand von Probetrainings ausgewählt worden aus verschiedenen Behindertenwerkstätten in ganz Deutschland. Auf dem Platz stehen Schreiner, Landschaftsbauer, Lagerarbeiter und auch 19-Jährige, die gerade erst die Förderschule beendet haben und sich noch beruflich orientieren. Sie alle hatten sich in Abstimmung mit ihren Betreuern für das neue Fußball-Leistungszentrum beworben, das die Gold-Kraemer-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland, der Bundesagentur für Arbeit und den Gemeinnützigen Werkstätten Köln aufgebaut hat.
Nun leben sie seit August 2013 das Leben eines Profis: Jeden Tag Training, dazu Einheiten im Fitnessstudio, Leistungsdiagnostik an der Sporthochschule Köln – ebenfalls ein Partner des Projekts –, Fach– und sozialpädagogische Schulungen und gemeinsames, ambulant betreutes Leben in eigenen Wohnungen.
„Einfach super, ein Traum“, urteilt Sascha über das Projekt, obwohl er sich eben leicht das Knie verdreht hat und nun locker um den Platz läuft. Er hatte als Lagerarbeiter in einer regulären Behindertenwerkstatt gearbeitet, jetzt ist Fußball sein Job. Was danach kommt, wird sich noch zeigen: Die Spieler absolvieren immer wieder kurze Praktika, um sich neue Berufsfelder anzusehen, sofern sie nicht bereits eins gefunden haben.
Ziel ist der erste Arbeitsmarkt
„Natürlich wird hier aus keinem ein Bundesliga-Fußballer“, räumt der Trainer ein. „Darum geht es aber auch gar nicht. Zwar wollen wir die Jungs auch fußballerisch voranbringen. Aber vor allem wollen wir über den Leistungssport ihre sozialen Kompetenzen schulen. Damit sie es aus der Behindertenwerkstatt herausschaffen, womöglich in den ersten Arbeitsmarkt, also in einen normalen Job.“
Der Begriff „geistige Behinderung“ bedeutet in erster Linie, dass das kognitive Potenzial eines Menschen – also etwa die Fähigkeiten, zu kommunizieren und Probleme zu lösen, Auffassungs– und Erinnerungsvermögen – deutlich unter dem Durchschnitt liegt. Mit anderen Worten: Sie sind einfach weniger intelligent. Der Grad der geistigen Behinderung wird deswegen nicht zuletzt anhand des Intelligenzquotienten (IQ) gemessen. Ein IQ unter 70 – das entspricht dem Niveau eines unter zwölf Jahre alten Kindes – wird bei Erwachsenen in der Regel als Behinderung eingestuft. Diese kann vererbt sein, von zu viel Alkohol während der Schwangerschaft herrühren oder von Sauerstoffmangel bei der Geburt; die geistige Behinderung kann auch auf einen Hirnschaden wegen eines Unfalls oder einer Erkrankung zurückzuführen sein. Geistig behinderte Menschen haben also nicht gleich ein Down-Syndrom oder sind Autisten. Den meisten sieht man ihre Einschränkung überhaupt nicht an, außer vielleicht an den Verhaltensauffälligkeiten, die oft mit der geistigen Behinderung einhergehen.
Intelligenzquotient
Intelligenzquotient (IQ)/-/intelligence quotient
Kenngröße, die das intellektuelle Leistungsvermögen eines Menschen ausdrücken soll. Entsprechende Tests zur Ermittlung der Intelligenz gehen mit dem Konzept einher, dass ein allgemeiner Generalfaktor der Intelligenz existiert, der in der Bevölkerung normal verteilt ist. Die ersten IQ-Tests wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von Alfred Binet entwickelt, der damit das relative Intelligenzalter von Schulkindern bestimmen wollte. Seiner Definition zufolge bezeichnet der IQ den Quotienten aus Intelligenzalter und Lebensalter multipliziert mit 100. Dies ist demnach auch der durchschnittliche IQ eines Menschen. 95 Prozent der Bevölkerung liegen mit ihren IQ-Werten zwischen 70 und 130. Erreicht jemand einen Wert unter 70, spricht man von Intelligenzminderung, während ein Ergebnis jenseits der 130 als Hochbegabung gilt.
Intelligenzquotient
Intelligenzquotient (IQ)/-/intelligence quotient
Kenngröße, die das intellektuelle Leistungsvermögen eines Menschen ausdrücken soll. Entsprechende Tests zur Ermittlung der Intelligenz gehen mit dem Konzept einher, dass ein allgemeiner Generalfaktor der Intelligenz existiert, der in der Bevölkerung normal verteilt ist. Die ersten IQ-Tests wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von Alfred Binet entwickelt, der damit das relative Intelligenzalter von Schulkindern bestimmen wollte. Seiner Definition zufolge bezeichnet der IQ den Quotienten aus Intelligenzalter und Lebensalter multipliziert mit 100. Dies ist demnach auch der durchschnittliche IQ eines Menschen. 95 Prozent der Bevölkerung liegen mit ihren IQ-Werten zwischen 70 und 130. Erreicht jemand einen Wert unter 70, spricht man von Intelligenzminderung, während ein Ergebnis jenseits der 130 als Hochbegabung gilt.
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Sport baut Aggressionen ab
Gerade ist Stefan am Ball (Name geändert), ein junger kraftstrotzender Bursche mit kurzen blonden Haaren, er dribbelt, schießt – und verzieht neben das Tor. „Vor einem halben Jahr wäre er in dieser Situation noch ausgeflippt“, sagt sein Trainer. „Er kam direkt aus der Schule zu uns, ein guter Junge, aber anfangs hoch aggressiv, völlig kritikunfähig und kaum zu beruhigen. Einige Male ist er so ausfallend geworden, dass wir ihn aus dem Training nehmen mussten.“ Heute, nach nur wenigen Monaten, ist Stefan wie ausgetauscht – viel ruhiger. Der Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft, die Bestätigung von anderen, gemeinsam den Alltag organisieren: All das bringt ihn weiter. „Er hat wahrscheinlich den größten Schritt von allen gemacht“, sagt Malte Strahlendorf.
Deutschlandweit gibt es rund 480.000 Menschen mit geistiger Behinderung. Viele haben mit Aggressionen und anderen extremen Gemütsregungen zu kämpfen. Einem geregelten Job in einem normalen Betrieb – auch wenn es eine einfache Tätigkeit ist – können sie deshalb oft nicht nachgehen. Es fehlt an Kritikfähigkeit, Teamgeist, Motivation, Verantwortungsgefühl. Genau das lernen Betroffene – neben den Arbeitsabläufen des selbst gewählten Berufs – in den rund 750 Behindertenwerkstätten deutschlandweit. Eng betreut werden sie Schritt für Schritt in die Gesellschaft geführt.
Dem Fußball-Leistungszentrum in Frechen liegt der Gedanke zugrunde, dass Mannschaftssport den Betroffenen die nötigen sozialen Fähigkeiten gut vermitteln kann, „womöglich sogar besser als die Arbeit in einer herkömmlichen Behindertenwerkstatt“, sagt Volker Anneken, Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Inklusion durch Sport und Bewegung (FIBS), einer gemeinnützigen Tochtergesellschaft der Gold-Kraemer-Stiftung, die an die Kölner Sporthochschule angegliedert ist. Das Frechener FIBS, mitgetragen von dem Verein Lebenshilfe NRW, begleitet das Projekt wissenschaftlich. „Zum Beispiel fehlt es vielen Betroffenen an Eigenantrieb; sie brauchen oft einen Anstoß von außen nach dem Motto ‚Mach doch mal!‘“, sagt Anneken. Sport, vor allem systematischer Leistungssport mit konkreten Zielen, könne diesen Eigenantrieb entfachen. Das wirkt bei Nicht-Behinderten im Prinzip genauso. „Aber das Verbesserungspotenzial ist bei geistig behinderten Menschen viel größer.“
Wichtig seien feste Strukturen und viel Geduld. Übungen müssen oft wiederholt werden; zu komplex sollten sie auch nicht sein. „Die Jungs tun sich zum Beispiel schwer, wenn sie den Ball gerade passen und dann aber diagonal laufen sollen“, sagt Malte Strahlendorf, während seine Spieler das auch unter Profis beliebte „8 gegen 2“ spielen: Zwei Spieler in der Mitte müssen den Ball erwischen, den sich die acht anderen um sie herum zupassen.
Die Betroffenen sollen ihr Stigma loswerden
Ob die gleichen Fortschritte sich auch im Alltag zeigen, muss noch untersucht werden, die wissenschaftliche Begleitung des Projekts ist da erst am Anfang. „Das fängt beim eigenständigen Bus– und Bahnfahren an“, weiß Malte Strahlendorf. „Da wird es für viele schwierig. Mein Gefühl ist aber, dass sie auch da jetzt besser klarkommen, ich erlebe die Jungs ja täglich.“ Dieses Gefühl wird gestützt durch eine vor drei Jahren durchgeführte Studie aus der Türkei: Dort absolvierten Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren mit und ohne geistige Behinderung ein gemeinsames achtwöchiges Fußballprogramm mit drei Trainingseinheiten pro Woche jeweils nach Schulschluss. Ergebnis: Die Jugendlichen mit geistiger Behinderung verbesserten sich nicht nur in Sachen Fitness und fußballerischem Können, sondern vor allem bezüglich ihrer sozialen Kompetenzen. Ja, sie schlossen in dieser Hinsicht sogar zu den Teilnehmern ohne intellektuelle Einschränkung auf.
In dem deutschen Fußball-Projekt lernen die geistig behinderten Kicker jedenfalls, mit ihrer Einschränkung umzugehen, ihre Fähigkeiten in konstruktive Bahnen zu lenken. „Manches können sie ja sogar besser als andere“, betont Malte Strahlendorf. „Einige haben enorme Ausdauer bei sich ständig wiederholenden Tätigkeiten.“ Von Autisten kennt man außerdem so genannte Inselbegabungen: Sie können beispielsweise mit Tieren umgehen wie kein anderer, haben ein fotografisches Gedächtnis oder rechnen wie die Weltmeister. Der Hollywoodfilm „Rain Man“ mit Dustin Hoffman als autistischem Genie in der Hauptrolle, setzte diesem Phänomen ein Denkmal.
Das Training geht zu Ende, Malte Strahlendorf ruft die Jungs zusammen, Hütchen und Bälle werden eingesammelt. Gut gelaunt geht es zurück in die Kabine. „Am Ende geht es darum, dass diese Menschen ihr Stigma loswerden“, sagt er. „Viele Vereine und Arbeitgeber haben große Berührungsängste, wenn sie hören, dass jemand ‚geistig behindert‘ ist. Andere wiederum nehmen zu viel Rücksicht. Sie verkennen völlig, dass zum Beispiel diese Jungs hier einfach gut kicken können. Und normal reden kann man mit ihnen auch. Wenn sie sich sozial nur ein wenig weiterentwickeln, spricht nichts mehr dagegen, dass sie in einem normalen Verein mitspielen, einige tun das bereits in verschiedenen Kreisligamannschaften der Umgebung. Oder sie schaffen es in eine Auswahlmannschaft für geistig behinderte Menschen“, sagt Trainer Strahlendorf. „Mein Ziel ist, dass ihre Einschränkung irgendwann einfach egal ist. Für sie und alle anderen auch.“
Eidetisches Gedächtnis
Eidetisches Gedächtnis/-/eidetic memory
Der Begriff eidetisches Gedächtnis bezeichnet das Phänomen eines nahezu perfekten visuellen Gedächtnisses. Manchmal wird auch der Begriff »fotografisches« Gedächtnis verwendet. Das Phänomen ist sehr selten, wissenschaftlich jedoch nicht klar definiert.
Stigma
Stigma/-/stigma
Der Begriff bezeichnet eine Eigenschaft, die von der Gesellschaft oder von einer Gruppe als negativ bewertet wird und die zur Diskreditierung von Personen führt, welche diese Eigenschaft aufweisen. Stigmata können sich beispielsweise auf Mitglieder bestimmter Ethnien oder soziale Randgruppen beziehen. Auch die Diagnose einer psychischen Störung oder einer Krankheit wie AIDS kann abhängig vom sozialem Umfeld mit einer Stigmatisisierung einhergehen.
zum Weiterlesen:
- Beitrag des ARD-Morgenmagazins zum Frechener Leistungszentrum: http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/morgenmagazin/sportschlau/Sportschlau-Fussball-Leistungszentrum-fuer-geistig-behinderte-Menschen-100.html
- Webseite der Gold-Kraemer-Stiftung zum Leistungszentrum: http://www.gold-kraemer-stiftung.de/leistungen/sport/fussballleistungszentrum-frechen.html
- Deutscher Behindertensportverband: http://www.dbs-npc.de/