Wissenschaftliches Gehirnjogging?
Bewegung hält den Körper fit – und Gehirntraining das Denkorgan? Gemeinsam mit Neurowissenschaftlern wollen Anbieter wie Lumosity durch internetgestützte Gehirnjogging-Spielchen den Nutzern zu geistigen Höhenflügen verhelfen. Was bringen diese?
Scientific support: Prof. Dr. Thomas F. Münte
Published: 27.06.2014
Difficulty: intermediate
- Geistige Fitness ist ein hohes Gut, entsprechend groß ist der Markt für Produkte, die sie zu steigern versprechen. Der momentan wohl erfolgreichste ist das internetgestützte Trainingsprogramm „Lumosity“.
- Die Studienlage ist unübersichtlich, viele Fragen sind nicht abschließend geklärt. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass geeignete Gehirnjogging-Übungen gewisse kognitive Fähigkeiten verbessern können.
- Lumosity ermöglicht Forschern Zugriff auf seinen Datenbestand, der alle Spielergebnisse und weitere Angaben von über 50 Millionen Nutzern aus aller Welt enthält. Das könnte neue Erkenntnisse über kognitive Fähigkeiten und ihre Abhängigkeit von verschiedensten Faktoren wie dem Alter liefern.
Verschiedene geistige Funktionen lassen sich unterschiedlich gut trainieren. Die Aufmerksamkeit etwa kann man durch Übungen relativ leicht verbessern. Und das Training lässt sich dabei durchaus auch auf andere, nicht eingeübte Aufgaben übertragen. Andere Bereiche wie das Gedächtnis gelten nach dem derzeitigen Kenntnisstand als schwieriger zu trainieren.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Der Besuch bei Lumosity erinnert in vielerei Hinsicht ans Fitnessstudio: Am Anfang steht eine umfangreiche Bestandsaufnahme. Nicht nur die aktuelle Leistungsfähigkeit wird getestet, auch die Trainingsprioritäten sind anzugeben. Nur stehen hier nicht Bizepszuwachs, Fettreduktion oder Rückenkräftigung zur Wahl, sondern „mehrere Informationen im Kopf behalten“, „Schlüsselinformationen herausfiltern“ oder „effizient zwischen Aufgaben wechseln“. Ich befinde mich auf der Internetseite lumosity.com, laut Werbeaussage: „Ihr Spezialist für wissenschaftliches Gehirntraining“. Mit der browserbasierten Anwendung und der analog aufgebauten iPhone-App versuchen über 50 Millionen Menschen aus aller Welt, ihre grauen Zellen auf Höchstleistung zu trimmen.
Der Einstieg ist unkompliziert, das Ambiente modern, die Sprache motivierend. „Super Anfang!“, bescheinigt mir die Software nach einem ersten Spiel, bei dem nacheinander Karten mit Symbolen gezeigt werden. Per Tastendruck muss ich möglichst schnell angeben, ob die eben aufgedeckte Karte mit der davor gezeigten übereinstimmt oder nicht. Nach zwei weiteren Disziplinen wird klar, dass die Firma Lumos Labs ihre derzeit 18 verschiedenen geistigen Fitnessübungen auf der deutschsprachigen Website nicht verschenken, sondern per Monats-, Jahres– oder Lebenszeitabo bezahlt haben will. Im Gegenzug wird mir ein ausgefeiltes, abwechslungsreiches und personalisiertes Training versprochen.
„Riesenbedarf“ nach geistiger Fitness
Lumosity ist dabei nicht der erste und nicht der einzige Gehirnjogging-Anbieter: NeuroNation wirbt mit einem ganz ähnlichen Angebot, andere wie Fresh Minder setzen auf herkömmliche, auf dem eigenen Rechner zu installierende Software. Erstmals breite Aufmerksamkeit erregte die Verschmelzung aus Videospiel und geistigem Fitnesstraining mit „Dr. Kawashimas Gehirn-Jogging“. Das Nintendo-Spiel, das vor allem auf Rechenaufgaben setzte, kam in westlichen Ländern 2006 auf den Markt. Aber auch zu diesem Zeitpunkt war die Grundidee keineswegs neu. Ähnliche Übungen wie am Computer lassen sich schließlich auch mit Papier und Bleistift durchführen. So hat der Erlanger Psychologe Siegfried Lehrl, der als Erfinder des deutschen Begriffs „Gehirnjogging“ gilt, nach eigener Aussage bereits 1982 einen wissenschaftlichen Kongress zu diesem Motto mitorganisiert.
„Die Menschen haben einen Riesenbedarf, was die Steigerung geistiger Fitness anbelangt“, sagt Lehrl, der heute im Ruhestand nach wie vor als Präsident der Gesellschaft für Gehirntraining e. V. vorsteht. „Man weiß: Geistige Fitness bringt Erfolge in Schule und Beruf und hat auch eine höhere Lebensqualität zur Folge.“
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Gehirnjogging aus Sicht der Forschung: Kontra …
Nur: Hoffnungen plus Versprechungen ergeben noch nicht automatisch Erfolg. Die Frage ist also: Kann ein Training à la Lumosity, das nicht mehr als zehn oder fünfzehn Minuten ein paarmal pro Woche erfordern soll, die geistige Fitness wirklich steigern?
Wissenschaftliche Studien zu dieser Frage liefern ein zwiespältiges Bild. Verschiedenen Erfolgsmeldungen stehen Ergebnisse wie das einer Metaanalyse aus dem Jahr 2013 gegenüber. Darin rechneten die Forscher Ergebnisse mehrerer Studien zusammen, die die Effekte von kognitivem Training bei beginnender Demenz untersucht hatten. Sie fanden unterm Strich keine stichhaltigen Hinweise auf einen Nutzen. Allerdings habe die Qualität der vorhandenen Studien auch zu wünschen übrig gelassen.
Bereits 2010 machte eine Untersuchung britischer Psychologen Furore, die mit Hilfe der BBC tausende normale Bürger dazu brachten, zu Hause Gehirntrainings und –tests zu absolvieren. Das Resultat der damals in Nature veröffentlichten Studie klingt vernichtend: „Obwohl Verbesserungen in jeder der trainierten kognitiven Aufgaben zu beobachten waren, gab es keine Hinweise, dass sich dies auf untrainierte Aufgaben ausgewirkt hätte, selbst wenn diese kognitiv eng verwandt waren.“ Anders gesagt: Wer übt, sich eine Symbolkarte zu merken und sie zu vergleichen, wird genau darin besser. Aber er wird davon bei anderen, alltagsrelevanten Herausforderungen wie dem Merken von Namen und Gesichtern kein bisschen profitieren.
Demenz
Demenz/Dementia/dementia
Demenz ist ein erworbenes Defizit kognitiver, aber auch sozialer, motorischer und emotionaler Fähigkeiten. Die bekannteste Form ist Alzheimer. „De mentia“ bedeutet auf Deutsch „ohne Geist“.
… und Pro
Sollte man für seine geistige Fitness also lieber richtig joggen gehen, wie mitunter empfohlen wird? Gegen diese Schlussfolgerung verwahrt sich Siegfried Lehrl, auch wenn er körperlichen Faktoren wie Bewegung, Ernährung und ausreichend Schlaf großen Einfluss auf die mentale Leistungsfähigkeit zugesteht. Die BBC-Studie sei „methodisch ein Unding“: Man wisse viel zu wenig über die Teilnehmer, die Abbrecherquote sei riesig gewesen, jegliche Kontrolle über Trainings– und Testbedingungen habe gefehlt. Ganz ähnlich äußert sich der Psychologe Michael Falkenstein vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung der TU Dortmund, der auch den deutschen Lumosity-Konkurrenten NeuroNation berät. Er selbst hat in den Jahren 2008 bis 2010 unter anderem ältere Fließbandarbeiter untersucht. Sie absolvierten über dreieinhalb Monate zweimal wöchentlich ein Programm aus handverlesenen Übungen. Vorher und nachher durchgeführte IQ-Tests und Messungen per Elektroenzephalogramm zeigten laut Falkenstein, dass das Training gewisse Aufmerksamkeitsprozesse wieder hochgefahren habe. Die Probanden hätten sich zudem in vielen, wenn auch nicht allen, Tests verbessert.
Geistiges Training habe also auf jeden Fall Potenzial, ist Falkenstein überzeugt: Ein naher Transfer, also die Auswirkung auf ähnlich gelagerte Aufgaben, steht für ihn außer Frage. Auch auf ferneren Transfer gebe die aktuelle Studienlage Hinweise. Defizite sieht er indes bei allen konkret erhältlichen Trainings – die seien auf Dauer nicht motivierend und vielfältig genug. Auch die Wissenschaft müsse noch Hausaufgaben erledigen: Systematische Untersuchungen – nach dem Motto: „Wie lange muss man was trainieren, um einen bestimmten Effekt zu haben?“ – seien Mangelware, beklagt Falkenstein. Eine besonders harte Nuss für die Forscher ist schließlich die Relevanz des Trainings für die Bewältigung des realen Lebens. Denn alltagsnahe Messmethoden hätten Seltenheitswert, wie Falkenstein erläutert: Selbstauskünfte der Nutzer seien nicht verlässlich, andere Methoden aber kaum entwickelt und dadurch beeinträchtigt, dass Probanden bei Wiederholung eines bestimmten Testaufgabentyps allein durch den Übungseffekt besser abschneiden.
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Gehirnjogging für die Forschung
Eine Besonderheit von Lumosity ist, dass die Firma nicht nur Forschungsergebnisse als Verkaufsargument nutzt. Sie will auch durch ihre Verkaufserfolge den Forschungsstand verbessern helfen. Wissenschaftler können Lumosity für Studien einsetzen. So zeigten sich etwa positive Effekte wie eine verbesserte geistige Flexibilität bei Brustkrebs-Überlebenden. Diese leiden oft langfristig unter kognitiven Beeinträchtigungen, die mit der Chemotherapie einhergehen. Zum anderen können Forscher Zugriff auf Lumositys Datenbestände erhalten. Damit können sie potenziell jedes Spielergebnis sowie alle sonstigen, freiwilligen Angaben der über 50 Millionen Kunden – etwa zu Schlafgewohnheiten oder Stimmung vor und nach dem Training – auf der Suche nach Bestätigung oder Widerlegung ihrer Thesen durchkämmen. Anders gesagt: „Big Data“ — die Auswertung extrem großer Datenmengen — hält Einzug in die Kognitionsforschung.
2013 veröffentlichten Wissenschaftler von Lumosity und ein externer Forscher eine erste exemplarische Studie. Sie zeigte unter anderem, dass Menschen mit moderaten Schlafgewohnheiten (sieben Stunden) und niedrigem Alkoholkonsum kognitiv am leistungsfähigsten sind. Damit ist freilich nur ein statistischer, kein ursächlicher Zusammenhang bewiesen. Das vielleicht ambitionierteste Vorhaben verfolgt der Alzheimerforscher Michael Weiner aus San Francisco. Seine Vision ist es, in den Spielergebnis-Datenbanken Merkmale einsetzender Demenz zu finden – Lumosity könnte so eines Tages zum Diagnosetool werden.
Demenz
Demenz/Dementia/dementia
Demenz ist ein erworbenes Defizit kognitiver, aber auch sozialer, motorischer und emotionaler Fähigkeiten. Die bekannteste Form ist Alzheimer. „De mentia“ bedeutet auf Deutsch „ohne Geist“.
Versteckte Kosten
So spannend diese Möglichkeiten klingen – ich habe mich fürs Erste wieder abgemeldet bei Lumosity. Denn ein entscheidender Faktor ist bisher nur am Rand angeklungen: die individuellen Lebensumstände. So bezeichnet Michael Falkenstein Gehirntraining als „Krücke“ für diejenigen, denen geistig herausfordernde Berufe und Hobbys fehlen. Für alle anderen gilt es, auch die „versteckten Kosten“ zu bedenken, wie ein vorsichtig skeptisches Hirnjogging-Memorandum von Wissenschaftlern aus dem Jahr 2009 empfiehlt: „Jede Stunde am Computer ist eine Stunde weniger, die man zum Beispiel mit Wandern, dem Lernen einer Fremdsprache, dem Ausprobieren eines neuen Kochrezepts oder dem Spielen mit Enkelkindern verbringen kann.“
zum Weiterlesen:
- Gesellschaft für Gehirntraining e. V., URL: http://www.gfg-online.de /Stand [27.06.2014]; zur Webseite.
- Bahar-Fuchs, A. et al.: Cognitive training and cognitive rehabilitation for mild to moderate Alzheimer’s disease and vascular dementia. In: The Cochrane Database of systematic reviews, 2013 (zum Text).
- Memorandum zum Nutzen von Gehirnjogging-Produkten, URL: https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/presse/2009/05/nutzen-von-hirnjogging-produkten-fraglich /Stand [27.06.2014]; zur Webseite.