Technik, die unter die Haut geht
Die Ära der Cyborgs ist längst angebrochen. Hirnforschung hat viele Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine erzeugt. Sie nährt mit ihren Fortschritten auch Visionen, doch die Verschmelzung hat Grenzen. Über die ethischen Hürden muss jetzt dringend debattiert werden.
Veröffentlicht: 20.02.2015
Niveau: mittel
- Das Thema Cyborg ist nicht neu: Technische Hilfsmittel werden in der Medizin bereits seit Jahrtausenden eingesetzt, seit 1958 gibt es implantierte Herzschrittmacher.
- Die komplette Fernsteuerung des Menschen oder das Auslesen seiner intimsten Gedanken gehören in den Bereich der Science Fiction – ihre Umsetzung darf bezweifelt werden.
- Aktuelle Erfolgsgeschichten stammen aus der Therapie von zum Beispiel Depression und Zwangsstörungen. Sie werden mit der Methode der tiefen Hirnstimulation erreicht.
- Computer-Hirn-Schnittstellen zur Steuerung von Prothesen sind in der Entwicklung, stoßen aber aufgrund möglicher gesundheitlicher Risiken der Patienten bisher an Grenzen.
- Gleichwohl müssen ethische Grenzen bereits jetzt diskutiert werden.
Prof. Dr. Thomas Stieglitz studierte Elektrotechnik in Braunschweig und Karlsruhe. Am Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in St. Ingbert/Saar etablierte er den Forschungsbereich der Neuroprothetik. Er promovierte 1998 und habilitierte sich 2002 an der Universität des Saarlandes. Seit 2004 leitet er den Lehrstuhl für Biomedizinische Mikrotechnik am Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg. Stieglitz forscht auf dem Gebiet neurotechnischer Implantate. Er ist Mitgründer und im Beirat der Start-up-Firma CorTec.
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Die Ära der Cyborgs ist längst angebrochen. Hirnforschung hat viele Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine erzeugt. Sie nährt mit ihren Fortschritten auch Visionen, doch die Verschmelzung hat Grenzen. Über die ethischen Hürden muss jetzt dringend debattiert werden.
Erwartungen an die Hochtechnologie, Heilsversprechen von Wissenschaftlern, Ängste vor Cyborgs sowie das ethische Dürfen und das gesellschaftliche Wollen sind nur einige Aspekte in dem komplexen Umfeld neurotechnischer Implantate. Nicht immer wird das öffentliche Bild durch Expertenwissen geprägt. Wunsch– und Wahnvorstellungen, die in die Zukunft projiziert werden, können Ängste wecken, aber auch Hoffnungen, die nie erfüllt werden können. Gedanken von Menschen auszulesen, die die intimsten Gefühle betreffen, das gesamte Gehirn ins Internet zustellen oder Bevölkerungsgruppen fernzusteuern, sind beliebte Szenarien in Science-Fiction-Filmen, ebenso wie die Erzeugung von Mensch-Maschine-Hybriden mit übermenschlichen Fähigkeiten. Dass Hirnforschung und Technik dazu prinzipiell jemals in der Lage sein werden, bleibt zu bezweifeln. Nicht jedes wissenschaftliche Grundlagenwissen kann in ein Hilfsmittel zum Alltagsgebrauch für Menschen überführt werden. Zwischen Fiktion, Grundlagenforschung und klinischem Langzeiteinsatz am Menschen muss unterschieden werden.
Tatsache ist, dass technische Hilfsmittel in der Medizin schon seit Jahrtausenden eingesetzt werden. Schon im Altertum wurden chirurgische Instrumente benutzt und aus Holz geschnitzte Zehenprothesen in Gräbern vorgefunden. Hölzerne Arm-und Beinprothesen stellten über Jahrhunderte einfachsten Ersatz zur Verfügung. Mit der „eisernen Hand“ des Götz von Berlichingen im 16. Jahrhundert wurde erstmals die Funktion der Finger nachgebildet, ohne diese Funktion jedoch ansteuern zu können. Nachdem Volta und Galvani im 18. Jahrhundert entdeckt hatten, dass Muskeln und Nerven elektrische Signale übertragen und elektrisch gereizt werden können, wurde versucht, dieses Wissen in der Medizin anzuwenden.
Seit 1958 nutzt man bei voll implantierbaren Herzschrittmachern diese Erkenntnis. Durch elektrische Impulse regen sie das Herz zum Schlagen an, wenn das natürliche Erregungssystem dies nicht mehr macht. Jedes Jahr erhalten mehrere Hunderttausende Menschen weltweit durch diese Implantate ein zweites Leben geschenkt. Neben dem Herzen sind auch alle Nerven im Körper elektrisch erregbar. Die Neurowissenschaften versuchen die Funktionen und das Zusammenspiel von Gehirn, Rückenmark und den Informationen aus der Peripherie des Körpers und durch die Sinnesorgane zu verstehen sowie die Steuerung von inneren Organen und Muskeln durch körpereigene elektrische Signale. Ergänzt und verstärkt von klinisch tätigen Medizinern, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Neurotechnik – das Neural Engineering – entwickelt. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Hilfsmittel zur Therapie neurologischer Erkrankungen und zur Rehabilitation zu entwickeln, indem sie technische Systeme mit dem Nervensystem in Kontakt bringt.
So wie bei der Entwicklung von Diagnosegeräten zur Durchleuchtung des Menschen und zur Darstellung des Körperinneren die Angst vor einer Entfremdung des Patienten vom Arzt und von seinen Fähigkeiten zu Diskussionen unter dem Schlagwort der „Apparatemedizin“ geführt hat, so ist die Entwicklung von Implantaten stets begleitet von der Angst, ein „Maschinenmensch“, ein „Cyborg“, zu werden.
Anwendungen neurotechnischer Implantate gibt es für alle Bereiche des Körpers. Die Beeinflussung neuronaler Aktivität im Gehirn wird oft mit dem Begriff der „Neuromodulation“ umschrieben. Hier gibt es einige Erfolgsgeschichten. Die elektrische Stimulation von Strukturen des Hypothalamus und der sogenannten Kerngebiete im Mittelhirn, die tiefe Hirnstimulation, hilft weltweit mehr als 60 000 Menschen, die an Morbus Parkinson erkrankt sind, das Zittern abzustellen, die Bewegungssteifigkeit zu überwinden und überschießende Bewegungen als Nebenwirkungen medikamentöser Therapie zu unterdrücken. Auch für schwerste Formen medikamentös refraktärer psychischer Erkrankungen wie Depression und Zwangsstörungen ist diese Elektrostimulationstherapie mittlerweile zugelassen. Elektroden werden in das Gehirn implantiert und durch ein Kabel unter der Haut mit einem batteriebetriebenen Stimulator im Brustbereich verbunden. Ist die Batterie nach einigen Jahren leer, wird dieser Teil des Implantats von der Elektrode gelöst.
Die tiefe Hirn-Stimulation wird in klinischen Studien auch als Therapieoption für weitere Erkrankungen untersucht, bei denen eine Änderung der Konzentration von Botenstoffen wie Dopamin oder Serotonin und veränderte Muster elektrischer Aktivierung vorkommen. Positive Effekte wurden bei Epilepsie und Tourette-Syndrom, aber auch bei Essstörungen berichtet. Zur Verringerung der Anzahl epileptischer Anfälle wurde jüngst ein System zugelassen, das die Hirnaktivität aufnimmt und nur dann stimuliert, wenn es einen Anfall in einer Frühphase erkennt, bevor er sich richtig ausgebreitet hat. Ein anderes Implantat verringert die Anzahl epileptischer Anfälle schon bei über 65 000 Patienten weltweit. Eine Spiralelektrode stimuliert dort dauerhaft den Vagusnerv am Hals. Diese Implantate zur Neuromodulation erzielen beeindruckende klinische Ergebnisse, ihre Wirkungsweise ist jedoch weitgehend unverstanden. Computermodelle können helfen, die Funktion des gesunden und kranken Gehirns zu verstehen, doch sind Beweise der Arbeitshypothesen mit der gegenwärtig verfügbaren Technik oft nicht zu erbringen. Zu viele Zellen müssten mit technischen Systemen an vielen Stellen Signale aufnehmen, um das Zusammenspiel der einzelnen Bereiche des Gehirns zu untersuchen und vielleicht zu verstehen.
Schon seit mehr als 50 Jahre werden Rückenmarkstimulatoren implantiert, um chronischen Schmerz, der medikamentös nicht beherrschbar ist, zu verringern. Die Systeme werden auch bei Dranginkontinenz eingesetzt und haben weltweit die Lebensqualität von über 130 000 Menschen verbessert. Die Aktivität von Nervenfasern im Rückenmark wird durch die Elektrostimulation „überschrieben“ und verändert Signalmuster im Stammhirn, was zu einer Verbesserung der Symptome führt. Sowohl die Stimulation des Rückenmarks, als auch die des Hirns ähneln technisch gesehen den Herzschrittmachern. Firmen können auf das Wissen aus diesem Bereich zurückgreifen. Die Elektroden sind jedoch recht groß und stimulieren alles in ihrem Umfeld. Dies kann zu Nebenwirkungen führen, da auch Nerven erregt werden, die nicht zur gewünschten Reaktion beitragen. Stimmungsschwankungen bei der Tiefenhirnstimulation, raue Stimme und Drehschwindel bei der Vagusnerv-Stimulation können auftreten. Durch Änderung der Stimulationsstärke und die Auswahl eines anderen Kontaktes auf der Elektrode können diese Nebenwirkungen oft abgestellt werden. Einige junge Forscher entwickeln Systeme mit einer höheren Anzahl von Kontakten und versprechen, mit diesen Ansätzen die Hirnregionen gezielter und nebenwirkungsärmer zu stimulieren.
Kontakte zu peripheren Nerven zur Regeneration der Bewegung nach Querschnittlähmung, etwa nach einem Schlaganfall oder zur Ansteuerung von Prothesen nach Amputation wird schon seit dem Zweiten Weltkrieg erforscht. Die Ergebnisse sind allerdings ernüchternd. Gegenwärtig gibt es weltweit nur ein zugelassenes Implantat zur Harnblasenentleerung nach Querschnittlähmung. Es wurde Ende der sechziger Jahre entwickelt und wird heute noch nahezu unverändert verwendet.
Ein Implantat zur Wiederherstellung der Greiffunktion nach Lähmung im Halsmarkbereich wurde kurz vor der Jahrtausendwende in den Vereinigten Staaten und der EU zugelassen, doch wurde die aus einer Universität ausgegründete Firma nach wenigen Jahren insolvent, da die weltweit verkauften 270 Geräte nicht ausreichten, die Kosten zu decken. Der Geschäftsplan und vielleicht auch der Zeitpunkt der Markteinführung waren nicht gut genug zum Überleben, eine rettende Übernahme durch eine große finanzstarke Firma blieb aus. Die versorgten Patienten sind mit dem Implantat hochzufrieden, können sie doch eigenständig Dinge greifen und dadurch ihren Alltag selbstbestimmt meistern. Nach knapp zwei Jahrzehnten fallen nun die ersten elektronischen Bauteile der Implantate aus, ein Ersatz ist nicht zu bekommen. Die Patienten erleben zum zweiten Mal das Trauma, die Greiffunktion zu verlieren und vollständig von ihrer Umgebung abhängig zu sein.
Das Stehen und Gehen auf zwei Beinen als ein Merkmal des Menschseins treibt die Forscher an, diese Funktion mit Hilfe von Elektrostimulation nach einer Lähmung wiederherzustellen. Die Herausforderungen bestehen nicht nur darin, die Beine koordiniert anzusteuern, sondern auch den Körper im Gleichgewicht zu halten. Die stimulierten Muskeln ermüden allerdings in nur wenigen Minuten. Treppen oder längere Strecken können nicht überwunden werden. Implantate wurden vereinzelt in klinischen Studien eingesetzt, waren jedoch nicht erfolgreich genug, um in Produkte überführt zu werden. Statt einen Funktionsersatz zu erzielen, hat sich das Augenmerk eher auf den therapeutischen Nutzen der Muskelaktivierung durch Elektrostimulation gerichtet. Insbesondere in Großbritannien nutzen Menschen Programme, die die Muskulatur trainieren, den Kreislauf stabilisieren, die Knochendichte erhalten und Wundsitzen durch Muskelaufbau vermeiden.
Weltweite Beachtung fanden Studien in den letzten Jahren, bei denen das Rückenmark von Patienten mit Querschnittlähmung im Bereich der Lendenwirbelsäule mit implantierten Elektroden stimuliert wurde. Jahre nach der Querschnittlähmung wurden Netzwerke von Nervenzellen im Rückenmark aktiviert, die den Menschen in den Studien das Stehen ermöglichten und keine Muskelermüdung hervorriefen. Da die Implantate ursprünglich jedoch nicht für diesen Gebrauch hergestellt wurden, bedarf es nun einer Geräteentwicklung, nachdem die Machbarkeit des Ansatzes gezeigt ist. Das einzige Implantat in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall wird nach über 20 Jahren Entwicklungsarbeit und Zulassung in Europa von Referenzzentren heraus in die breite Anwendung überführt. Es stimuliert elektrisch zur rechten Zeit beim Gehen den Peroneusnerv im Bereich des Knies und hebt damit den Fuß an.
Die Gedankensteuerung von künstlichen Gliedmaßen ist ein alter Traum. Seit Luke Skywalker in „StarWars“ eine künstliche Hand angepasst bekommen hat, sind fast 30 Jahre vergangen. Was ist von dieser Fiktion im Alltag angekommen? Die Rehabilitationstechnik hat gewaltige Fortschritte gemacht. Verschiedene Prothetikfirmen bieten Handprothesen mit fünf Fingern und der Möglichkeit an, komplexe Bewegungen auszuführen. In vielen Fällen werden die Steuersignale für die verschiedenen Funktionen über nur zwei Oberflächenkontakte von der verbliebenen Muskulatur aufgenommen. Signalverarbeitung und Anlernen des Patienten sind notwendig, um die unterschiedlichen Funktionen auszuführen. Implantate zur Prothesensteuerung sind noch nicht als zugelassenes Medizinprodukt erhältlich. Forschergruppen versuchen geeignete Signale auf verschiedenen Ebenen des Nervensystems abzugreifen, um intuitiv komplexe Bewegungen mit vielen Freiheitsgraden von Fingern, Hand, Ellbogen und Schulter steuern zu können. Auf der Ebene der Muskeln und der Nutzung ihrer elektrischen Signale zur Prothesensteuerung entsteht ein Teufelskreis. Je höher die Amputation oder Lähmung ist, desto mehr Signale werden benötigt, um die fehlenden Funktionen anzusteuern, doch desto weniger nutzbare Signale sind verblieben.
Eine chirurgische Methode hat hier weltweit Aufsehen erregt, weil sie diesen Teufelskreis durchbrochen hat und Menschen mit Oberarmamputation die Möglichkeit zur Prothesensteuerung gibt. Die „Targeted Muscle Reinnervation“ (TMR) nimmt die verbliebenen Armnerven und befestigt sie auf dem Brustmuskel, dessen Nerven zuvor durchtrennt wurden. Der Zielmuskel kann nach dem Einwachsen dieser Nerven durch Denken einer Finger-, Hand– und Armbewegung bewegt werden. Der Muskel arbeitet hier als eine Art biologischer Verstärker, der die Nervensignale um einen Faktor von knapp 100 in Muskelsignale wandelt. Diese Muskelsignale werden durch Oberflächenelektroden aufgenommen und zur Prothesensteuerung benutzt. Bislang wird das Verfahren nur für Oberarmamputationen angewendet. In klinischen Studien werden auch Elektroden direkt um den Nerv herumgelegt oder durch ihn hindurchgefädelt. Die Ergebnisse sind je nach Ansatz mehr oder minder ermutigend, doch fehlt in nahezu allen Fällen ein vollimplantierbares System.
Seit der Jahrtausendwende werden auch Computer-Hirn– Schnittstellen zur Gedankensteuerung technischer Hilfsmittel wie Prothesen, Roboterarme und Bildschirmeingabehilfen diskutiert. Während für grundlegende Untersuchungen Oberflächenelektroden genommen werden, die mit vielen Kabeln mit Aufnahmeverstärkern verbunden sind, sollte eine Versorgung in der Rehabilitation am besten drahtlos erfolgen. Patienten steuern mit implantierbaren Elektrodenmatten auf oder kleinen Nadelkissen im Gehirn virtuelle und reale Roboterarme. Einige Studien gingen über mehrere Jahre, doch ist letztendlich die Durchführung von Kabeln aus dem Gehirn durch die Haut aufgrund möglicher gesundheitlicher Risiken für die Patienten inakzeptabel.
Die menschliche Hand zeichnet sich nicht nur durch Beweglichkeit aus, sondern auch durch die Möglichkeit, Dinge zu erfühlen und zu begreifen. Diese sensorischen Fähigkeiten sind in Prothesen bislang noch nicht weit ausgereift. In manchen Fällen wird die Griffkraft durch Vibration oder durch Elektrostimulation der Haut zurückgemeldet. Form und Härte der gegriffenen Objekte werden nicht zurückgemeldet. In Pilotstudien konnten Personen mit Implantaten in und um periphere Nerven herum intuitiv verschiedene Gegenstände mit der richtigen Kraft greifen. Der Beweis der Langzeitstabilität solcher Nervenschnittstellen und die Überführung in vollständig implantierte Systeme stehen aber noch aus.
Die größte Erfolgsgeschichte der Neuroprothetik sind Cochlea-Implantate, die das Hörvermögen durch Elektrostimulation in der Schnecke wiederherstellen. Über 250 000 Menschen weltweit können Sprache wieder verstehen, teilweise sogar telefonieren. Der Musikgenuss ist noch eingeschränkt, ebenso wie das Hören in lauter Umgebung mit vielen Stimmen. Diese Systeme mit ihren 20 Elektroden und der drahtlosen Energieversorgung zeigen die gegenwärtigen technischen Grenzen des Machbaren im Hinblick auf Robustheit und Langzeitstabilität im klinischen Alltag auf.
Die jüngst zugelassenen Sehprothesen in Amerika und Europa überschreiten diese Grenzen. Bislang können damit weniger als hundert Blinde weltweit in unbekannter Umgebung besser zurechtkommen, sind allerdings nach gesetzlichen Richtlinien aufgrund ihres Sehvermögens mit der Prothese immer noch als blind einzustufen. Diese Neuroprothesen werden bislang nur bei Menschen mit der Erbkrankheit Retinitis pigmentosa eingesetzt. Hier sterben diejenigen Zellen in der Netzhaut ab, die Licht in elektrische Spannung umwandeln. Obwohl die zwei zugelassenen Produkte sich in ihrem Aufbau und Implantationsort im Auge unterscheiden, läuft ihre Wirkweise auf das gleiche Prinzip hinaus. Die noch in der Netzhaut vorhandenen Zellen, die die elektrischen Signale über den Sehnerv an das Gehirn weiterleiten, werden elektrisch gereizt. Die technisch erzeugten Signale werden dann im Gehirn empfangen und gedeutet. Die technischen Mikrosysteme mit vielen Stimulationskontakten sind die bislang komplexesten Implantate, doch haben sie ihre Langzeitstabilität noch nicht unter Beweis gestellt.
Schon allein die technischen Herausforderungen bei der Entwicklung von Implantaten im Kontakt mit dem Nervensystem sind vielfältig: Langzeitstabilität von Elektronik, die Material-Gewebe-Schnittstelle zum Nervensystem, die Verbindung der einzelnen Kontakte zur Steuerelektronik sind nur einige. Viele Fragen bleiben offen, manche vielleicht für immer. Bei vielen Milliarden Nervenzellen im Gehirn, von denen viele mit Tausenden von Verbindungen mit ihren Nachbarn kommunizieren, bleibt es fraglich, ob trotz der großen finanziellen Anstrengungen wie dem europäischen „Human Brain Project“ und Obamas „Brain Initiative“ das Gehirn, das Rückenmark und alle Nerven im menschlichen Körper simuliert und die Aktionen und Reaktionen jemals verstanden werden können. Und selbst wenn dies gelingt, können dann Krankheiten besser geheilt werden, und entstehen aus diesem Wissen bessere Rehabilitationsverfahren? Diese wissenschaftlichen Fragestellungen können nie ohne ökonomische, gesellschaftspolitische und medizinisch-ethische Fragen betrachtet werden. Hier sind alle aufgefordert mitzudiskutieren und mitzuentscheiden, wie wir neuartige medizintechnische Hilfsmittel und Therapien entwickeln wollen und wo wir bewusst Grenzen setzen, die nicht überschritten werden sollten.
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Rückenmark
Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord
Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-, Thorakal-, Lumbal und Sakralmark unterteilt.
Hypothalamus
Hypothalamus/-/hypothalamus
Der Hypothalamus gilt als das Zentrum des autonomen Nervensystems, er steuert also viele motivationale Zustände und kontrolliert vegetative Aspekte wie Hunger, Durst oder Sexualverhalten. Als endokrine Drüse (die – im Gegensatz zu einer exokrinen Drüse – ihre Hormone ohne Ausführungsgang direkt ins Blut abgibt) produziert er zahlreiche Hormone, die teilweise die Hypophyse hemmen oder anregen, ihrerseits Hormone ins Blut abzugeben. In dieser Funktion spielt er auch bei der Reaktion auf Schmerz eine wichtige Rolle und ist in die Schmerzmodulation involviert.
Morbus Parkinson
Morbus Parkinson, Parkinson-Krankheit/Morbus Parkinson/Parkinson`s desease
Eine der häufigsten neurologischen Krankheiten. Bedingt durch das Absterben Dopamin produzierender Neurone in der Substantia nigra kommt es zu einem Ungleichgewicht von Neurotransmittern in den Basalganglien. Das führt zum klassischen Zittern meist der Hände, zu starrer Mimik und einem typischen, trippelnden Gang. Die Parkinson-Krankheit kann nicht geheilt, durch die Gabe von Medikamenten aber gemildert werden. Eine neue, aber nicht einfache Therapiemethode ist der Hirnschrittmacher.
Depression
Depression/-/depression
Phasenhaft auftretende psychische Erkrankung, deren Hauptsymptome die traurige Verstimmung sowie der Verlust von Freude, Antrieb und Interesse sind.
Zwangsstörungen
Zwangsstörung/-/obsessive compulsive disorder
Diese Bezeichnung fasst neuropsychiatrische Erkrankungen zusammen, die sich einerseits in Form von Zwangsgedanken und andererseits in Form von Zwangshandlungen manifestieren. Die Betroffenen haben beispielsweise den Drang, sich ständig wiederkehrenden, meist angstvollen Gedanken zu widmen, sich übermäßig oft zu waschen oder ihre Mitmenschen unverhältmismäßig stark zu kontrollieren. Während Neurowissenschaftler Zwangsstörungen früher rein psychologisch zu erklären versuchten, ist man mittlerweile davon überzeugt, dass auch einige biologische Faktoren zu ihrer Entstehung beitragen, wie etwa ein gestörter Stoffwechsel verschiedener Neurotransmitter im Gehirn.
Dopamin
Dopamin/-/dopamine
Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.
Serotonin
Serotonin/-/serotonin
Ein Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient. Er wird primär in den Raphé-Kernen des Mesencephalons produziert und spielt eine maßgebliche Rolle bei Schlaf und Wachsamkeit, sowie der emotionalen Befindlichkeit.
Schlaganfall
Schlaganfall/Apoplexia cerebri/stroke
Bei einem Schlaganfall werden das Gehirn oder Teile davon zeitweilig nicht mehr richtig mit Blut versorgt. Dadurch kommt es zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff und dem Energieträger Glukose. Häufigster Auslöser des Schlafanfalls ist eine Verengung der Arterien. Zu den häufigsten Symptomen zählen plötzliche Sehstörungen, Schwindel sowie Lähmungserscheinungen. Als Langzeitfolgen können verschiedene Arten von Gefühls– und Bewegungsstörungen auftreten. In Deutschland ging 2006 jeder dritte Todesfall auf einen Schlaganfall zurück.
Querschnittslähmung
Querschnittslähmung/-/spinal paralysis
Hiermit bezeichnen Ärzte eine Kombination von Symptomen, die auftritt, wenn der Nervenstrang im Rückenmark durchtrennt wird. Auf welcher Höhe der Wirbelsäule die Verletzung geschieht, ist entscheidend für deren Konsequenzen: Gliedmaßen und Organe, deren Innervierung unterhalb der lädierten Stelle vom Rückenmark abzweigt, kann der Körper künftig nicht mehr selbst steuern. Mögliche Folgen reichen von einer teilweisen Lähmung der Gliedmaßen bis hin zum kompletten Kontrollverlust über Mastdarm und Blasé.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Netzhaut
Netzhaut/Retina/retina
Die Netzhaut oder Retina ist die innere mit Pigmentepithel besetzte Augenhaut. Die Retina zeichnet sich durch eine inverse (umgekehrte) Anordnung aus: Licht muss erst mehrere Schichten durchdringen, bevor es auf die Fotorezeptoren (Zapfen und Stäbchen) trifft. Die Signale der Fotorezeptoren werden über den Sehnerv in verarbeitende Areale des Gehirns weitergeleitet. Grund für die inverse Anordnung ist die entwicklungsgeschichtliche Entstehung der Netzhaut, es handelt sich um eine Ausstülpung des Gehirns.
Die Netzhaut ist ca 0,2 bis 0,5 mm dick.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Sehnerv
Sehnerv/Nervus opticus/optic nerve
Die Axone (lange faserartige Fortsätze) der retinalen Ganglienzellen bilden den Sehnerv, der das Auge auf der Rückseite an der Papille verlässt. Er umfasst ca. eine Million Axone und hat einen Durchmesser von ca. sieben Millimetern.
Dieser Artikel erschien erstmals am 11.06.2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Teil der Vortragsreihe „Hirnforschung, was kannst du? — Potenziale und Grenzen“ von Gemeinnütziger Hertie-Stiftung und FAZ.
Hier der Mitschnitt der FAZ zum Vortrag Die Ära der Cyborgs.