Leistungssport fürs Gehirn

Copyright: Bernd Leinenbach
Leistungssport fürs Gehirn

Gleichzeitig zuhören, verstehen und das Gesagte in einer anderen Sprache wiedergeben, unter Zeitdruck, live vor Publikum: Simultandolmetschen ist Stress pur. Doch es trainiert das Gehirn – auch für den Alltag.

Scientific support: Prof. Dr. Ferdinand C. Binkofski

Published: 27.04.2015

Difficulty: intermediate

Das Wichtigste in Kürze
  • Simultandolmetschen ist in der globalisierten Welt eine gefragte Dienstleistung, vor allem in internationalen Unternehmen und Organisationen.
  • Die meisten Simultandolmetscher lernen ihr Handwerk an der Universität.
  • Simultandolmetschen ist äußerst fordernd, weshalb Dolmetscher im Team arbeiten und sich alle halbe Stunde abwechseln.
  • Hirnforscher interessieren sich dafür, wie das Gehirn es fertigbringt, zwei Sprachen zugleich aktiv zu halten und zwischen ihnen zu wechseln. Sie vermuten, dass Dolmetscher damit Kontrollfähigkeiten trainieren, die ihnen auch im Alltagsleben nützen.
  • Dolmetschen ist eine Koordinationsleistung vieler Hirnbereiche. Eine besondere Rolle scheint dabei dem Corpus striatum zuzukommen. Doch die Hirnforschung steht beim Simultandolmetschen noch am Anfang.

„Ladies and Gentlemen, welcome to our workshop …”, kaum hat der Redner die ersten Worte gesprochen, fällt Bernd Leinenbach ein: „Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Sie herzlich…“ Aus seiner schalldichten Kabine, die in die hintere Wand des Plenarsaals im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung eingebaut ist, schaut er über die Reihen der Teilnehmer zum Sprecher am Rednerpult. Der doziert bereits über die Stadtplanung der Zukunft. Die meisten der Zuhörer setzen die bereitliegenden Kopfhörer auf. Sie lauschen lieber Bernd Leinenbach. Er ist Konferenzdolmetscher. Sein Job: englische und portugiesische Sätze ins Deutsche zu übertragen – während der Redner spricht.

„Simultandolmetschen ist sehr fordernd, Stress ist ein ständiger Begleiter“, erklärt Dörte Andres, Professorin für Dolmetschwissenschaft am Fachbereich Translations-​, Sprach– und Kulturwissenschaft der Universität Mainz. Gleichzeitig hören und verstehen, was der andere sagt, und dies, ein wenig zeitversetzt, in einer anderen Sprache wiedergeben. Das Ganze unter Zeitdruck, schließlich redet der Vortragende immer weiter. Und auch noch live vor Publikum: Der ganze Saal erwartet eine verständliche, fließende, angenehme Übersetzung. Bernd Leinenbach wird das eine halbe Stunde, vielleicht auch 45 Minuten durchhalten. Dann muss er an seine Kollegin übergeben. Erst nach einer halbstündigen Pause wird er wieder zum Headset greifen. Seinen ruhigen, wohlbetonten Sätzen merkt man den Stress nicht an. Man könnte ihm stundenlang zuhören.

Stress garantiert

„Im Idealfall versteht man alles, was gesagt wird“, erläutert Leinenbach. „Und idealer Weise ist man bei der Wiedergabe vom Original weit weg, man sagt es so, wie man es in der Zielsprache eben sagen würde.“ Doch das gelingt nicht immer. „In einem Interview wurde Jamie Lee Curtis erwähnt, als Tochter von Tony Curtis“, erzählt Leinenbach. „Mir ist Tommy Lee Jones eingefallen, der hat auch das ‚Lee’ in der Mitte und der Name hat einen ähnlichen Rhythmus. Das bin ich nicht mehr losgeworden. Nach einer viel zu lagen Denkpause von bestimmt ein, zwei Sekunden habe ich dann einfach von der Tochter gesprochen und den Namen unterschlagen.“ Und manchmal rutscht ihm einfach ein Wort heraus, das sich ähnlich anhört, aber keinen Sinn ergibt. Dann ist der erdbebensichere ein erdbeerensicherer Bunker.

Schnelles Sprechen, Dialekte, Anspielungen, Witze und gleichlautende Wörter machen den Dolmetschern die Arbeit zusätzlich schwer. Zudem gibt es immer wieder Nischen mit Fachvokabular, in die der Dolmetscher auch in langjähriger Tätigkeit noch nicht geraten ist. „Das seltsamste war eine Tagung über Verwesungsstörungen auf Friedhöfen“, erinnert sich Leinenbach. Da hilft nur eine gute Vorbereitung. Ist der Tag fortgeschritten, das Thema komplex, die Kabine heiß und schlecht belüftet und kein Ende der Debatte in Sicht, geraten auch gestandene Dolmetscher an den Rand der Belastbarkeit. „Ich hab es erlebt, da haben wir uns in einer Diskussion bei jeder Frage abgewechselt, auch nach nur zwei Minuten, weil wir so fertig waren.“

Beginn mit den Nürnberger Prozessen

Vermutlich dolmetschen die Menschen, seit es verschiedene Sprachen gibt. Die Geschichte des modernen Simultandolmetschens jedoch beginnt mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Da alle Äußerungen ins Englische, Französische, Russische und Deutsche übersetzt werden mussten, suchte man nach einer zeitsparenden Alternative zu der bis dahin gängigen Konsekutivübersetzung. Bei dieser wartet der Dolmetscher ab, bis der Redner seinen Satz beendet hat und übersetzt diesen dann – was die Redezeit verdoppelt. Seither hat das Simultandolmetschen, unterstützt von der immer besser werdenden Kommunikationstechnik, das Konsekutivdolmetschen weitgehend verdrängt. Es ist bei vielen wissenschaftlichen Konferenzen und in den internationalen Organisationen und Unternehmen gängige Praxis.

In der UNO wird in Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und Arabisch gedolmetscht, in der EU in alle 24 Amtssprachen. Die internationalen Organisationen, Ministerien und Verbände sind zugleich die größten Arbeitgeber der Simultandolmetscher. Etwa 800 deutsche Simultandolmetscher sind im Verband der Konferenzdolmetscher (VKD) und im Internationalen Verband der Konferenzdolmetscher (AIIC) organisiert. „Auch wenn es schwieriger geworden ist, gute Dolmetscher sind nach wie vor gefragt“, berichtet Dolmetsch-​Professorin Dörte Andres. Der Mainzer Masterstudiengang Konferenzdolmetschen nimmt jedes Jahr etwa 40 bis 50 Studierende auf – bei etwa dreimal so vielen Bewerbungen.

Bernd Leinenbach ist Diplom-​Dolmetscher, er hat in Heidelberg Dolmetschen und Übersetzen studiert und ist seit über 20 Jahren als freiberuflicher Dolmetscher tätig, mit Schwerpunkt Wirtschaft. Längst nicht jeder Dolmetscher hat sein Handwerk an der Universität erlernt. „Es ist vor allem eine Sache von üben, üben, üben“, so Leinenbach. Aber im Studium lerne man Tricks und Kniffe, mit schwierigen Situationen zurechtzukommen. „Das ist wie beim Torwarttraining“, sagt er. „Da baut sich die ganze Mannschaft auf und schießt im Sekundenabstand und der Torwart muss lernen, den Ball, den er nicht mehr kriegen kann, zu vergessen und sich auf den nächsten zu konzentrieren.“ Also: Wenn ein Wort fehlt, besser umschreiben, erstmal „Ding“ sagen, wenn einem „Schraube“ nicht einfällt. Das ist zwar nicht schön, aber besser, als sich völlig abhängen zu lassen. Eine besondere Begabung für das Dolmetschen braucht man seiner Ansicht nach nicht. Gleichzeitig zuzuhören und zu sprechen hält er für eine angeborene Fähigkeit, die uns früh aberzogen wird: Wenn andere sprechen, bist du still!

Glanzleistung des Gehirns

Hirnforscher interessieren sich schon lange dafür, wie das Gehirn Sprachen koordiniert. Nicht nur, weil es an sich schon eine beeindruckende Leistung ist, mehrere Sprachen zu sprechen, sondern auch weil Mehrsprachigkeit einen Zusatznutzen bringt: Sie macht flexibler im Kopf. Die Forscher haben auch eine Idee, woran das liegen könnte: Wer ständig in seinem Gehirn klären muss, welche Sprache er verwendet, könnte damit Kontrollfähigkeiten trainieren, die ihm auch bei Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Handeln helfen.

Das Simultandolmetschen müsste für das Gehirn ein Extremfall dieser Kontrollleistung sein, denn das Gehirn muss beide Sprachen zugleich aktivieren und ständig zwischen ihnen wechseln. Und damit nicht genug: „Ich kenne Dolmetscherinnen, die während der Arbeit stricken, andere schreiben besondere Formulierungen mit, eine Kollegin macht während des Dolmetschens Computerspiele“, berichtet Leinenbach. „Das kann ich nicht.“

Um dieser Glanzleistung des Gehirns auf die Spur zu kommen, hat ein Team um Barbara Moser-​Mercer von der Fakultät für Übersetzung und Dolmetschen der Universität Genf in einer noch unveröffentlichten Studie zusammen mit dem dortigen Brain and Language Labor die Hirnaktivität von fünfzig mehrsprachigen Versuchspersonen ohne Erfahrung im Simultandolmetschen mit dem Hirnscanner untersucht. 23 von diesen Probanden waren im Masterstudiengang „Konferenzdolmetschen“ der Universität eingeschrieben, hatten aber bislang nur konsekutiv gedolmetscht. Die Probanden mussten in einem Versuch entweder der gesprochenen Sprache nur zuhören, das Gesagte während des Hörens nachsprechen oder es simultan übersetzen. Das Ergebnis der Forscher: Die Fähigkeit zum Simultandolmetschen beruht, wie viele andere kognitive Leistungen auch, auf der koordinierten Aktivität vieler Hirnregionen; eine eigene Hirnregion fürs Dolmetschen gibt es nicht.

Das Simultandolmetschen aktiviert alle Hirnregionen, die auch beim Nachsprechen aktiv werden, und dazu noch einige andere, vor allem das Corpus striatum, bestehend aus Nucleus caudatus und Putamen. Ersterer wird mit der Planung, letzteres mit der Ausführung von Handlungen in Zusammenhang gebracht. Der Nucleus caudatus ist beteiligt bei der Umsetzung des Inputs in der einen in den Output in der anderen Sprache. Der Putamen hingegen mit der Hemmung der gerade nicht benötigten Sprache. Verletzungen in dieser Hirnregion führen bei Mehrsprachlern dazu, dass sie ihre Sprachen durcheinanderbringen. Interessanterweise aber ist die Muttersprache bei Hirnverletzungen aber allgemein weniger störanfällig – selbst bei Menschen, die lange Zeit zum Beispiel im Ausland gelebt und dort hauptsächlich eine andere Sprache gesprochen haben.

Den Forschern ist bewusst, dass sie mit diesen Ergebnissen erst ganz am Anfang stehen. Denn es gibt nicht einfach „das Dolmetschen“. „Es gibt beim Dolmetschen unterschiedliche Strategien“, erläutert Dörte Andres: „Man übersetzt etwa schnelle Sprecher anders als langsame, da muss man komprimieren und sich auf Kernaussagen konzentrieren.“ In der Ausbildung sieht Andres die Studierenden verschiedene Stadien durchlaufen: Bemüht der Anfänger sich noch bewusst, Kernaussagen herauszufiltern, wird dabei aber häufig von den vielen anderen Dingen überrollt, die er gleichzeitig im Kopf halten muss, komprimiert der erfahrene Dolmetscher mehr oder weniger automatisch und intuitiv. So bleibt kognitiver Freiraum für andere Probleme. Die Studien aus Genf bestätigen dies: Als die Forscher einige ihrer fünfzig Probanden nach einem Jahr erneut zum Scannen baten, zeigten die Gehirne von 19 Studierenden aus dem Dolmetscherstudium, die inzwischen begonnen hatten das Simultandolmetschen zu trainieren, eine Veränderung: Die Aktivität im Nucleus caudatus war beim Dolmetschen geringer geworden. Ein Phänomen, das alle Forscher kennen, die mit Lernprozessen zu tun haben: Was man im Griff hat, benötigt weniger kognitive Kontrolle.

Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit/-/attention

Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.

Nucleus

Nucleus/Nucleus/nucleus

Nucleus, Plural Nuclei, bezeichnet zweierlei: Zum einen den Kern einer Zelle, den Zellkern. Zum zweiten eine Ansammlung von Zellkörpern im Gehirn.

Nucleus caudatus

Nucleus caudatus/Nucleus caudatus/caudate nucleus

Teil der Basalganglien, gemeinsam mit dem Putamen und dem Pallidum. Anatomisch liegt der Nucleus caudatus frontal zur Mitte des Gehirns. Er besteht aus einem Kopf– (Caput nuclei caudati), einem Körper — (Carpus nuclei caudati) und einem Schwanzbereich (Cauda nuclei caudati). Im Gegensatz zu den eher motorischen Anteilen der Basalganglien besteht hier eine starke Vernetzung mit dem präfrontalen Cortex. Automatisierung kognitiver Aufgaben ist also vor allem im Nucleus caudatus repräsentiert.

Putamen

Putamen/-/putamen

Ein Kern der Basalganglien, der gemeinsam mit dem Nucleus caudatus das Striatum bildet. Als Teil des extrapyramidalen motorischen Systems ist es an der willkürlichen Motorik (willentlichen Bewegung) beteiligt.

Hemmung

Hemmung/-/inhibition

Die neuronale Inhibition, oder auch Hemmung umschreibt das Phänomen, dass ein Senderneuron einen Impuls zum Empfängerneuron sendet, der bei diesem dazu führt, dass seine Aktivität herabgesetzt wird. Der wichtigste hemmende Botenstoff ist GABA.

Dolmetschen ist gut fürs Gehirn

Dolmetschen ist Leistungssport für das Gehirn – mit positiven Nebeneffekten: Nach den Untersuchungen von Stavroula Stavrakaki und Kollegen an der Aristoteles Universität in Thessaloniki haben Simultandolmetscher ein besseres Arbeitsgedächtnis und eine bessere Ausdrucksfähigkeit als „gewöhnliche“ Mehrsprachler. Carolina Yudes und Kollegen konnten an der Universität Granada nachweisen, dass Simultandolmetscher in einem Test namens Wisconsin Card Sorting Task besser abschnitten als Mehrsprachler.

Bei diesem Test müssen die Versuchspersonen zusammengehörende Karten sortieren, ohne die Regel, nach der sortiert werden muss, zu kennen. Sie bekommen nur ein Feedback, ob sie es richtig oder falsch machen. Haben die Versuchspersonen zehn Karten richtig sortiert, ändert sich die Regel stillschweigend. Hierbei zeigte sich: Simultandolmetscher akzeptieren schneller, dass die Regel sich geändert hat, sie haben schneller alternative Hypothesen zur Hand und machen weniger Fehler. Eine Fähigkeit, die vor allem bei Sprachen wie dem Deutschen gefragt ist, in denen die Verben in Sätzen teilweise hinten stehen, der Dolmetscher aber nicht warten kann, bis der Satz zu Ende gesprochen ist.

Im Alltag kann der Dolmetscher sich aber außer auf sein trainiertes Gehirn auf einen weiteren Helfer verlassen: das kooperative Prinzip. Die Zuhörer verstehen, was Sinn macht, und ergänzen das Gemeinte oft ganz von selbst. „Und gerade bei Sprachen, die selten gedolmetscht werden, wie dem Portugiesischen, sind die Menschen einfach dankbar“, sagt Leinenbach.

Arbeitsgedächtnis

Arbeitsgedächtnis/-/working memory

Eine Form des Kurzzeitgedächtnisses. Es beinhaltet gerade aufgenommene Informationen und die Gedanken darüber, also Gedächtnisinhalte aus dem Langzeitgedächtnis, die mit den neuen Informationen in Verbindung gebracht werden. Das Konzept beinhaltet nach Alan Baddeley eine zentrale Exekutive, eine phonologische Schleife und ein visuell-​räumliches Notizbuch.

zum Weiterlesen:

  • Dörte, A.: Das Konzept Freitagskonferenz: Expertiseentwicklung durch berufsorientierte Lehre, in Hansen-​Schirra Silvia/​Kiraly Donald (Hrsg.), Projekte und Projektionen in der translatorischen Kompetenzentwicklung, 237 – 255.
  • Hervais-​Adelman, A.:fMRI of Simultaneous Interpretation Reveals the Neural Basis of Extreme Language Control, Cereb. Cortex, doi: 10.1093/cercor/bhu158 (zum Volltext).
  • Stavrakaki, S.: Working memory and verbal fluency in simultaneous interpreters, Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology, 34:6, 624 – 633, DOI: 10.1080/13803395.2012.667068 (zum Text).
  • Yudes, C.: The influence of expertise in simultaneous interpreting on non-​verbal executive processes, Frontires in Psychology, Volume 2, Article 309, doi: 10.3389/fpsyg.2011.00309 (zum Volltext).

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