„Wenn der es schafft, dann schaffe ich es auch“
Von der eigenen Abhängigkeit loszukommen, ist ein langer, steiniger Weg. Doch mittlerweile steht der Suchttherapie ein breites Arsenal an Behandlungen zur Verfügung, sagt Suchtexperte Karl Mann im Interview.
Published: 26.05.2015
Difficulty: intermediate
- Entzug bei der Alkoholabhängigkeit erfolgt oft stationär: Bei dieser Sucht gerät das Botenstoffsystem ins Ungleichgewicht. Das führt beim Entzug letztlich zu einer Entgleisung des vegetativen Nervensystems mit hohem Puls und starkem Schwitzen. In Rahmen einer stationären Behandlung erhalten Patienten daher Medikamente mit einer beruhigenden Wirkung wie Valium.
- Anschließend steht oftmals eine qualifizierte Entzugsbehandlung an. Betroffene bekommen von Psychologen die Hintergründe der Erkrankung vermittelt.
- Ist die körperliche Abhängigkeit überwunden, kann eine stationäre Entwöhnung helfen, der psychischen Abhängigkeit zu begegnen.
- Das erste Mittel der Wahl bei der Nikotinabhängigkeit ist die Schlusspunktmethode. Der Arzt legt gemeinsam mit dem Patienten den genauen Zeitpunkt fest, wann dieser seine letzte Zigarette raucht. Werden die Patienten immer wieder rückfällig, kommen Ersatzstoffe wie das Nikotinpflaster zum Einsatz. Anders als Zigaretten befriedigen sie nicht das Verlangen nach einer starken Zufuhr von Nikotin.
- Auch bei der Heroinabhängigkeit spielen Ersatzstoffe wie das Methadon eine wichtige Rolle. Die Betroffenen haben hierbei nicht die Tendenz, die Dosis immer mehr zu steigern wie beim Heroin selbst.
Autonomes Nervensystem
Autonomes Nervensystem/-/autonomous nervous system
Der Teil des Nervensystems, der die Vitalfunktionen – wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck – steuert. Unterteilt wird das autonome Nervensystem in einen sympathischen, anregenden, und einen parasympathischen, entspannenden Bereich.
Karl Mann ist emeritierter Suchtforscher und war bis vor einem Jahr Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim. In seiner Forschung, die er auch im Ruhestand weiterhin betreibt, hat er sich auf Alkohol- und Nikotinabhängigkeit spezialisiert sowie auf Spielsucht.
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dasGehirn.info: Professor Mann, Sie haben bis vor einem Jahr in der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin in Mannheim gearbeitet. Wie sieht beispielsweise der Entzug bei Alkoholabhängigkeit dort konkret aus?
Karl Mann: Patienten, die unter starken Entzugserscheinungen wie Krampfanfällen oder Wahrnehmungsstörungen, etwa Halluzinationen leiden, behandeln wir in Mannheim stationär. Neben einer genauen Untersuchung prüfen wir die Vitalparameter alle zwei, drei Stunden. Wir messen etwa Puls und Blutdruck und wie stark die Patienten schwitzen. Wenn diese Werte zu hoch sind, geben wir in der Regel Benzodiazepine wie Valium bis diese Symptome für den Patienten erträglich werden.
Welchen neurobiologischen Hintergrund hat die Gabe solcher Medikamente?
Bei der Alkoholabhängigkeit gerät das Botenstoffsystem ins Ungleichgewicht. Unter der täglichen Alkoholzufuhr wird der hemmende Botenstoff GABA mit seiner dämpfenden Wirkung im Vergleich zu dem erregenden und aktivierenden Botenstoff Glutamat zu wenig produziert. Wenn man den Alkohol plötzlich weglässt, macht sich das bemerkbar. Das führt letztlich beim Entzug zu dieser Entgleisung des vegetativen Nervensystems mit hohem Puls und Schweißausbrüchen. Daher geben wir Valium oder andere Benzodiazepine, die haben ähnlich wie GABA eine dämpfende Wirkung. Allmählich werden dann die Medikamente wieder heruntergefahren.
GABA
GABA/-/GABA
GABA ist eine Aminosäure und der wichtigste inhibitorische, also hemmende Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient.
Glutamat
Glutamat/-/glutamate
Glutamat ist eine Aminosäure und der wichtigste erregende (exzitatorische) Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient.
Autonomes Nervensystem
Autonomes Nervensystem/-/autonomous nervous system
Der Teil des Nervensystems, der die Vitalfunktionen – wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck – steuert. Unterteilt wird das autonome Nervensystem in einen sympathischen, anregenden, und einen parasympathischen, entspannenden Bereich.
Und wie geht es anschließend mit den Patienten weiter?
In der Vergangenheit wurden die Betroffenen nach einigen Tagen entlassen mit dem Rat, möglichst nichts mehr zu trinken. Vielleicht hat man ihnen noch empfohlen, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Das hat bei der großen Mehrheit der Menschen überhaupt nicht funktioniert. Sie sind eher früher als später rückfällig geworden. Mittlerweile gibt es die so genannte qualifizierte Entzugsbehandlung, die wir in Mannheim entwickelt haben und die inzwischen flächendeckend in Deutschland zum Einsatz kommt.
Wie darf man sich diese Behandlung vorstellen?
Die Patienten erhalten unter anderem eine Gruppentherapie. Hier bekommen sie die Hintergründe der Erkrankung aufgezeigt. Die Therapeuten führen ihnen vor Augen, dass es sich bei ihrer Abhängigkeit tatsächlich um eine Erkrankung handelt. Gleichzeitig machen sie ihnen aber auch klar, dass es eine wirksame Behandlung gibt. Oft ist ein Mitpatient dabei der beste Therapeut für den Betroffenen. Er kann beispielsweise als Vorbild dienen – nach dem Motto: „Wenn der es schafft, dann schaffe ich das auch!“ Diese qualifizierte Entzugsbehandlung dauert zwei bis drei Wochen.
Auch wenn die körperliche Abhängigkeit überwunden ist, bleibt eine psychische Abhängigkeit vom Alkohol oft lange Zeit bestehen…
In 40 bis 50 Prozent der Fälle empfehlen wir daher eine Entwöhnung, eine Form der längerfristigen Postakutbehandlung. Idealerweise noch während der stationären Entzugsbehandlung bei uns füllen die Patienten einen Antrag auf Reha-Maßnahmen von rund zwölf Wochen in entsprechenden Kliniken aus. Diese Behandlung ist in der Mehrzahl der Fälle ebenfalls stationär. Hier müssen die Patienten in der Regel abstinent hinkommen. Während der Reha werden sie in dem Wunsch gefestigt, abstinent zu bleiben.
Wie sieht das konkret aus?
Die Betroffenen bekommen beispielsweise vermittelt, wie sie mit dem unwiderstehlichen Drang zu trinken — dem so genannten Craving – umgehen können. Dieser Drang kann durch bestimmte Signale ausgelöst werden, etwa durch den Anblick der Stammkneipe oder den Geruch des Lieblingsgetränks. Den Patienten wird beigebracht, diese auslösenden Reize zu vermeiden. Und sie bekommen Entspannungstechniken vermittelt wie autogenes Training. Diese helfen, die physiologische Reaktion abzumildern, die durch solche Reize entsteht. Leider wollen sich viele Patienten dieser langen Prozedur der Entwöhnung nicht unterziehen.
Gibt es denn Alternativen?
Eine andere Möglichkeit der längerfristigen Postakutbehandlung ist beispielsweise eine ambulante Psychotherapie. Und es gibt auch Medikamente, die das Craving unterdrücken. Sie greifen längerfristig in das Gleichgewicht des bereits erwähnten Botenstoffsystems ein.
Jetzt haben wir viel über die Alkoholabhängigkeit gesprochen. Wie sieht die Behandlung denn beim Rauchen aus?
Die Behandlung erfolgt hier in der Mehrzahl der Fälle ambulant. Das erste Mittel der Wahl ist die Schlusspunktmethode. Der Arzt legt gemeinsam mit dem Patienten den genauen Zeitpunkt fest, wann dieser seine letzte Zigarette raucht. Das funktioniert bei mehr als der Hälfte der Betroffenen, ist sogar teilweise dauerhaft erfolgreich. Wenn die Patienten hingegen immer wieder rückfällig werden, kommen Substitutionsmittel ins Spiel. Zu diesen Ersatzstoffen zählt das Nikotinpflaster, der Nikotinkaugummi und ein Nasenspray mit Nikotin.
Und das funktioniert gut?
Die Ersatzstoffe sind wirklich erfolgreich. Die Pflaster beispielsweise gewährleisten eine langfristige Zufuhr von Nikotin mit einem bestimmten Spiegel. Anders als Zigaretten befriedigen sie nicht das Verlangen nach einer starken Zufuhr von Nikotin. Wenn das Craving, also das starke Verlangen nach Nikotin, dennoch auftritt, kommt ein Nasenspray oder ein Kaugummi zum Einsatz. Der größte Fehler ist übrigens, einen zu niedrigen Nikotinspiegel anzupeilen. Und am besten werden die Substitutionsmittel im Rahmen einer mehrwöchigen ambulanten Therapie mit Gleichgesinnten unter Anleitung eines Psychologen oder Arztes angewandt.
Auch beim Heroin greift man ja heutzutage auf Ersatzsubstanzen wie Methadon zurück, die der eigentlichen Droge ganz ähnlich sind…
Bei mehr als 50 Prozent der heroinabhängigen Menschen ist eine Methadonbehandlung erfolgreich. Und anders als man lange Zeit dachte, ist sie auch nicht problematisch. Die Betroffenen haben hierbei nicht die Tendenz, die Dosis immer mehr zu steigern wie beim Heroin selbst. Sie pendeln sich vielmehr auf einem Wert ein, den sie benötigen. Und es hat noch andere Vorteile: Die Betroffenen kommen beispielsweise zu uns nach Mannheim in die Methadonambulanz und holen sich täglich ihr Methadon ab. Sie müssen sich daher nicht mehr prostituieren oder Beschaffungskriminalität ausüben. Sie werden in die Lage versetzt, ein halbwegs normales Leben zu führen und eventuell sogar einem Beruf nachzukommen.
Warum werden Menschen bei Suchterkrankungen dennoch immer wieder rückfällig? Spielt da das so genannte Suchtgedächtnis eine Rolle?
Die Idee hinter dem Suchtgedächtnis ist, dass selbst geringste Reize zu Veränderungen im Botenstoffhaushalt führen. Bei der Heroinabhängigkeit geraten Betroffene alleine durch das Anschauen eines Spritzbestecks in einen entzugsähnlichen Zustand mit messbar veränderten Neurotransmittern – und das auch Jahre nach dem Beginn der Abstinenz. Das kann zu einem Rückfall führen. Der Begriff „Suchtgedächtnis“ ist zwar anschaulich, aber letztlich zu vereinfachend. Aber die neurobiologischen Vorgänge gibt es eben durchaus und hier kann man medikamentös ansetzen. Andere Gründe, warum Menschen rückfällig werden, sind etwa Lebensereignisse wie der Verlust von Partnern oder der Arbeit und persönliche Krisen.
Gibt es auch Methoden der Entwöhnung, die mit Ansätzen aus der Neurobiologie arbeiten?
Seit einem Jahr steht uns mit Nalmefen ein neues Medikament zur Behandlung der Alkoholkrankheit zur Verfügung. Das Besondere daran ist: Es hat primär nicht die Abstinenz zum Ziel, sondern die Trinkmenge zu reduzieren. Das klingt vielleicht erst einmal befremdlich. Schließlich leiden die Betroffenen unter einem Kontrollverlust und das könnte vermeintlich schnell wieder zu einem ungebremsten Alkoholkonsum führen. Doch Studien zeigen, dass es offensichtlich funktioniert. Ein Vorteil ist: Die Eingangsschwelle einer Behandlung ist für die Betroffenen bei diesem Medikament niedriger. Sie müssen nun nicht mehr vollkommen auf den Alkohol verzichten.
Und wo genau setzt dieses Medikament an?
Es blockt die Wirkung körpereigener Opiate, die normalerweise nach dem Alkoholkonsum das Verlangen nach einem weiteren Getränk weckt. Die positiv verstärkende Wirkung entfällt also und nach zwei, drei Bier haben die Betroffenen genug. Ein Patient berichtete einem Kollegen von mir: „Mensch, Herr Doktor, was haben Sie mir denn da verschrieben, ich muss mich richtig anstrengen, ein Bier zu trinken!“ Das ist erstaunlich. In den nächsten Jahren müssen wir einfach schauen, wohin uns dieser Weg führt. Er sieht zumindest sehr viel versprechend aus.
Zum Weiterlesen
- Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin; URL: http://www.zi-mannheim.de/behandlung/klinik-sucht.html; [Stand: 20.04.2015] zur Webseite.
- Hermann, G.: Das Medienzeitalter. Monopolisten auf dem Vormarsch, Süddeutsche Zeitung, Nr. 237 vom 13./14. Oktober 2001, S. 2.
- Zickgraf, A.: Wer trauert, darf auch lachen, Zeit Online, 18.01.2013 (zum Volltext).