Gewebe mit Funktionen des menschlichen Gehirns aus Stammzellen hergestellt
Erstmals ist es Wissenschaftler*innen der UMG und des Exzellenzclusters "Multiscale Bioimaging" (MBExC) sowie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) gelungen, aus humanen, induzierten pluripotenten Stammzellen neuronale Netzwerke mit Funktionen des menschlichen Gehirns herzustellen. Die als Bioengineered Neuronal Organoids (BENOs) bezeichneten Gewebe zeigen morphologische Eigenschaften des menschlichen Gehirns. Sie entwickeln zudem Funktionen, die für die Entwicklung von Lernen und Gedächtnisfunktionen bedeutend sind. Veröffenlicht in Nature Communications.
Published: 28.08.2020
Das Gehirn ist eines der komplexesten Organe des menschlichen Körpers. Für höhere Gehirnfunktionen müssen aktivierende und inaktivierende Nervenzellen in direkter Nachbarschaft zu sogenannten Gliazellen eng und zugleich dynamisch verschaltet sein. Veränderungen in der neuronalen Verschaltung im Gehirn werden mit Veränderungen von Lern- und Gedächtnisfunktionen in Verbindung gebracht. Störungen der neuronalen Verschaltungsfähigkeit gelten als mögliche Ursache für die klinische Symptome neurodegenerativer Erkrankungen.
Erstmals ist es nun Wissenschaftler*innen aus dem Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) in Zusammenarbeit mit Kollegen des Exzellenzclusters "Multiscale Bioimaging" (MBExC) sowie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) gelungen, aus humanen induzierten pluripotenten Stammzellen neuronale Netzwerke mit komplexen Funktionen des menschlichen Gehirns herzustellen.Diese so genannten Bioengineered Neuronal Organoids (BENOs), eignen sich somit zur genaueren Erforschung des Verlusts von Lernfähigkeit und Gedächtnis bei neurodegenerativen Erkrankungen. Die Göttinger Wissenchaftler setzten gezielte pharmakologische und elektrische Stimulationen ein, um einerseits die Bildung von BENOs zu ermöglichen und andererseits Prozesse der neuronalen Plastizität als erste Hinweise auf eine Lernfähigkeit zu prüfen. BENOs weisen zudem Funktionen auf, die für die Ausbildung von Lernen und Gedächtnis von zentraler Bedeutung sind. Die Ergebnisse dieser Studie wurden kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.
„Obgleich wir natürlich weit davon entfernt sind, das menschliche Gehirn in allen seinen Funktionen nachzubilden, sind wir von der Beobachtung zellulärer Prozesse, die für Lernen und Gedächtnisausbildung notwendig sind, in BENOs fasziniert”, sagt die Erstautorin der Publikation, Dr. Maria-Patapia Zafeiriou, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Pharmakologie und Toxikologie der UMG und Mitglied des Göttinger Exzellenzclusters “Multiscale Bioimaging”. Prof. Dr. Wolfram-Hubertus Zimmermann, Seniorautor der Publikation, Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der UMG sowie Projektleiter im Göttinger Exzellencluster “Multiscale Bioimaging”, sagt: „Erste Hinweise auf komplexe, physiologische Funktionen in den gezüchteten neuronalen Netzwerken machen uns Hoffnung, künftig degenerative Erkrankungen des zentralen Nervensystems im Labor simulieren zu können. Aufbauend auf dem zu erwartenden Erkenntnisgewinn ließen sich künftig innovative Therapieverfahren für Erkrankungen wie Parkinson, Epilepise, Schlaganfall und Demenz entwickeln”.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Gliazellen
Gliazellen/-/glia cells
Gliazellen stellen neben den Neuronen die zweite Gruppe große Gruppe von Zellen im Gehirn. Sie wurden lange Zeit als die inaktiven Elemente des Gehirns, als „Nervenkitt“ bezeichnet. Heute weiss man, dass die verschiedenen Typen von Gliazellen (Astrozyten, Oligodendrozyten und Mikrogliazellen) klar definierte Aufgaben im Nervensystem erfüllen. So reagieren sie z. B. auf Krankheitserreger, spielen eine wichtige Rolle bei der Ernährung der Nervenzellen oder isolieren Nervenfasern. Ihr Anteil im Vergleich zu den Neuronen liegt bei etwas über 50 Prozent.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Neurodegeneration
Neurodegeneration/-/neurodegeneration
Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.
Plastizität
Plastizität/-/neuroplasticity
Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen, sich abhängig vom Grad ihrer Nutzung zu verändern. Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler als corticale Plastizität.
Schlaganfall
Schlaganfall/Apoplexia cerebri/stroke
Bei einem Schlaganfall werden das Gehirn oder Teile davon zeitweilig nicht mehr richtig mit Blut versorgt. Dadurch kommt es zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff und dem Energieträger Glukose. Häufigster Auslöser des Schlafanfalls ist eine Verengung der Arterien. Zu den häufigsten Symptomen zählen plötzliche Sehstörungen, Schwindel sowie Lähmungserscheinungen. Als Langzeitfolgen können verschiedene Arten von Gefühls– und Bewegungsstörungen auftreten. In Deutschland ging 2006 jeder dritte Todesfall auf einen Schlaganfall zurück.
Demenz
Demenz/Dementia/dementia
Demenz ist ein erworbenes Defizit kognitiver, aber auch sozialer, motorischer und emotionaler Fähigkeiten. Die bekannteste Form ist Alzheimer. „De mentia“ bedeutet auf Deutsch „ohne Geist“.
BENOs und erste Anwendungen
Erste Anwendungen finden BENOs bereits in der Simulation von Erkrankungen des zentralen Nervensystems, zum Beispiel von Epilepsie Syndromen, und in der Testung von Arzneistoffen. Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass sich BENOs durch die breite Verfügbarkeit von induzierten pluripotenten Stammzellen aus prinzipiell jedem Menschen, mit oder ohne Erkrankung, herstellen lassen. „Dadurch öffnet sich nicht nur die Tür für eine Entwicklung und präklinische Testung individualisierter Verfahren direkt am menschlichen Modell. Auch die Züchtung von Ersatzgewebe für die Behandlung von Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen wird prinzipiell möglich“, sagt Prof. Dr. Zimmermann.
Da das gesunde und erkrankte menschliche Gehirn bisher noch unvollständig verstanden ist, sind die therapeutischen Möglichkeiten gerade bei degenerativen Erkrankungen des zentralen Nervensystems sehr eingeschränkt. Menschliche neuronale Netzwerke, im Sinne von „Mini-Gerhirnen” mit einer zellulären Zusammensatzung und Funktion in Anlehnung an das menschliche Gehirn, eröffnen vielversprechende Möglichkeiten: neben den Untersuchungen von Fragen zur normalen und fehlerhaften Entwicklung des menschlichen Gehirns gehört dazu auch die Testung neuartiger Therapieverfahren. Die Universitätsmedizin Göttingen (UMG) hat das Verfahren für die Herstellung von BENOs patentrechtlich schützen lassen und an die myriamed GmbH für die Anwendung im Bereich der Arzneimittelentwicklung auslizensiert.
Neurodegeneration
Neurodegeneration/-/neurodegeneration
Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.
Originalpublikation
Zafeiriou MP, Bao G , Hudson J, Halder R, Blenkle A, Schreiber MK, Fischer A, Schild A, Zimmermann WH Developmental (2020) GABA polarity switch and neuronal plasticity in Bioengineered Neuronal Organoids, Nat Commun, 11, 3791. DOI: 10.1038/s41467-020-17521-w or https://rdcu.be/b5VTo
GABA
GABA/-/GABA
GABA ist eine Aminosäure und der wichtigste inhibitorische, also hemmende Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient.