Das Gehirn isst mit

Grafik: MW
Kommunikation von Darm und Gehirn

Kalorien sind überlebenswichtig. Entsprechend eingespielt ist die Zusammenarbeit zwischen Darm und Gehirn, die unsere natürlichen Ernährungsratgeber sind. Doch moderne Lebensmittel können sie in die Irre führen.   

Scientific support: Prof. Dr. Petra Wahle

Published: 17.09.2020

Difficulty: easy

Das Wichtigste in Kürze
  • Kalorien waren im Laufe der Evolution überlebenswichtig. Darm und Hirn, die im intensiven Austausch miteinander stehen, steuern gemeinsam die Nahrungsaufnahme.
  • In bestimmten Gebieten des Hypothalamus sitzen Neurone, die messen, ob wir hungrig sind. Beeinflusst werden sie durch Darmhormone. 
  • Die Kommunikation von Darm und Gehirn kennt verschiedene Wege. Ein Austausch findet über den Vagusnerv statt. Daneben gelangen Darmhormone auch über das Blut ins Gehirn.
  • Neben dem Hypothalamus steuern auch das Belohnungssystem und Dopamin unsere Nahrungsaufnahme.     
  • Stark verarbeitete Lebensmittel wie Fertiggerichte führen die grauen Zellen in die Irre. Und ebenso Süßungsmittel. Die Folge: Wir essen mehr als gut für uns ist.  
Klein, aber mit großer Wirkung

Auch das Mikrobiom nimmt auf das Gehirn und unser Essverhalten Einfluss. Mikroorganismen im Darm sind beispielsweise in der Lage, für den Menschen nichtverdauliche pflanzliche Kohlenhydrate abzubauen, wodurch als wichtigste Endprodukte kurzkettige Fettsäuren gebildet werden. „Durch die Ausschüttung bestimmter Darmhormone sorgen die kurzkettigen Fettsäuren dafür, ein Sättigungsgefühl entstehen zu lassen“, sagt der Neurogastroenterologe Peter Holzer von der Medizinischen Universität Graz. Die Sättigungshormone können ins Gehirn gelangen und eine Sättigungszustand melden. Außerdem kann sich das Mikrobiom im Zuge von Übergewicht deutlich verändern. „Es zieht dann noch mehr Energie aus der Nahrung und stellt sie dem Körper des Wirts zur Verfügung, wodurch die Zunahme an Fett noch weiter voranschreitet.“ (mehr zum Mikrobiom: Einflussreiche Winzlinge)

Eine Darmgeschichte?

Für die Parkinsonkrankheit charakteristische Proteinablagerungen finden sich nicht nur im Gehirn, sondern oft schon zuvor im Darm von Betroffenen. Schon 2003 vermutete der deutsche Neuroanatom Heiko Braak, dass Parkinson seinen Anfang im Magen-Darm-Trakt nimmt und dann über den Vagusnerv ins Gehirn wandert. Einen Beleg für diese Hypothese fanden US-Forscher  in einer Studie . Sie spritzten die krankhaft veränderten Eiweiße in den Magen und Darm von Mäusen. Nach einigen Monaten fanden sie sich in der Substantia nigra die fehlgefalteten Proteine. Außerdem zeigte sich dort nun auch der charakteristische Verlust der Dopamin-produzierenden Nervenzellen. Hatten die Forscher hingegen den Vagusnerv durchtrennt, fanden sich keine krankhaften Veränderungen im Gehirn.

Substantia nigra

Substantia nigra/Substantia nigra/substantia nigra

Ein Kernkomplex im Mesencephalon, der eine wichtige Rolle bei der Bewegungseinleitung spielt. Er ist dunkel gefärbt und liegt im Tegmentum, seine Neurone stehen mit dem Basalganglien, dem Putamen und dem Nucles caudatus in Verbindung. Ein Ausfall führt zu Symptomen des Morbus Parkinson (Parkinson-​Krankheit).

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Man mag es sich kaum vorstellen: Doch es gab Zeiten im Laufe der Evolution, da wurden unsere Gelüste nach Fetten, Kohlenhydraten und Kalorien nicht durch die Allgegenwart von prall gefüllten Kühlschränken, Supermärkten und Fastfood-Restaurants unmittelbar befriedigt. Da musste das Essen noch ehrlich erjagt werden. Jede einzelne Kalorie war überlebenswichtig. Schließlich benötigen wir Energie, um etwa die Atmung, den Stoffwechsel und das Herz-Kreislaufsystem und besonders das Gehirn auf Kurs zu halten. Darüber hinaus kostet jede Bewegung Energie. Entsprechend entscheidend war es nicht nur, den Energiehaushalt genau zu kontrollieren und rechtzeitig nahrungstechnischen Nachschub anzumahnen. Angesichts des ständigen Kampfes um Essensressourcen galt es auch, Energiereserven für Notzeiten aufzubauen.

Kein Wunder also, dass bei dieser delikaten Aufgabe nicht nur der Darm, sondern auch das Gehirn ein kräftiges Wörtchen mitzureden hat. Unser gesamtes Essverhalten wird auch vom Gehirn kontrolliert. In bestimmten Gebieten des Hypothalamus sitzen Neurone, die messen, ob wir hungrig sind, ob unser Energiegehalt aus der Balance ist oder nicht. Und diese Neurone signalisieren uns, ob wir essen sollen. Eine wichtige Rolle spielt das so genannte Agouti-related Protein (AgRP), das den Appetit stimuliert.

Es wird von bestimmten Neuronen im Hypothalamus produziert und wenn man Hunger hat, sind die AgRP-Neurone aktiver. Wodurch die Tätigkeit dieser Neurone beeinflusst wird, haben sich 2017 Forscher um den Biologen J. Nicholas Betley von der University of Pennsylvania an Mäusen angeschaut. Zwar führte bei ihren Tieren bereits der Anblick, Geruch und Geschmack eines kalorienfreien Gels für eine verringerte Aktivität der AgRP-Neurone. Die Wirkung war allerdings nur von flüchtiger Dauer. Tatsächlich sorgte erst das Schnabulieren eines kalorienreichen Gels für eine langfristige reduzierte Tätigkeit der Nervenzellen. Je mehr Kalorien die Nager dabei zu sich nahmen, desto stärker verringerte sich die Aktivität der Neurone. Das Registrieren von Nährstoffen durch das Gehirn ist also entscheidend für die Kontrolle der Nahrungsaufnahme.  

Doch woher wissen die grauen Zellen, was an Kalorien im Magen und Darm angekommen ist? Tatsächlich herrscht beim Thema Essen eine rege und einflussreiche Kommunikation zwischen dem Verdauungssystem und dem zentralen Nervensystem. Kaum ist die Nahrung verzehrt, werden deren Nährstoffe auch schon im Magen-Darm-Trakt registriert. Dies, und die Dehnung der Magenwand führt zur Freisetzung von Sättigungshormonen. Der Hunger ist gestillt, die Mahlzeit wird beendet.

Die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn läuft teilweise über den Vagusnerv. Er verfügt über einen sehr großen Anteil an afferenten Nerven, also solchen Nervenzellen, die Informationen aus der Peripherie des Körpers ins Gehirn leiten. Und diese afferenten Nervenzellen werden von verschiedenen Darmhormonen aktiviert, weil sie Rezeptoren für diese Darmhormone haben. „Das ist eine Möglichkeit, wie Darmhormone auf das Gehirn einwirken können“, sagt der Neurogastroenterologe Peter Holzer von der Med Uni Graz. „Darmhormone kommen aber auch teilweise direkt über das Blut ins Gehirn und nehmen Einfluss auf die Appetitregulation“, so Holzer.  

„Daneben sind Neurone im Hypothalamus für viele andere periphere Signale wie  Leptin  empfänglich, ein Stoffwechselhormon, das von den Fettzellen verstärkt produziert wird, wenn das Fettgewebe zunimmt.“ Leptin gelangt über das Blut ins Gehirn und hemmt dann die AgRP-Neurone. 

Doppelte Belohnung

„Würde sich unser Organismus nur auf dieses System im Hypothalamus verlassen, dann würden wir immer nur so viel essen, wie wir brauchen“, sagt Marc Tittgemeyer vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung in Köln. „Im Lauf der Evolution war es aber wichtig, auch Energiereserven aufzubauen. Und um mehr zu essen als man gerade an Kalorien benötigt, bedarf es einer Belohnung.“ Hier kommen Hormone wie das „Belohnungshormon“ Dopamin ins Spiel. In einer Studie von 2019 hat Tittgemeyer mit Kollegen Probanden im fMRT-Scanner und im PET-Scanner Milchshakes verabreicht.

Wie sich herausstellte, führt die Nahrungsaufnahme zwei Mal zur Ausschüttung von Dopamin: Einmal im Moment des Geschmackserlebnisses, nachdem Signale aus dem Mund-Hals-Rachen-Bereich an Hirnregionen weitergeleitet wurden, die für die Sensorik zuständig sind. „Sie melden unter anderem zurück, wenn etwas schmackhaft und nicht giftig ist, damit man es herunterschluckt“, so Tittgemeyer. Kommt der Milchshake dann in Magen und Dünndarm an, sorgt das nach rund 12 bis 15 Minuten für eine weitere verstärkte Dopaminausschüttung. Die zeitliche Verzögerung deutet darauf hin, dass die Dopaminausschüttung nach der Nahrungsaufnahme durch Signale aus dem Darm ausgelöst wird.   
 
Wie wichtig das Belohnungssystem für die Nahrungsaufnahme ist, sieht man, wenn es nicht mehr richtig funktioniert. 
Schon 1999 stellte der Molekularbiologe Richard Palmiter von der University of Washington fest, dass genetisch veränderte Mäuse, deren Neurone kein Dopamin herstellen konnten, keine Nahrung zu sich nahmen und innerhalb weniger Wochen nach der Geburt starben. Die Schlussfolgerung von Palmiter in einer Übersichtsarbeit von 2008: Mäuse ohne Dopamin seien nicht motiviert, zielgerichtete Verhaltensweisen wie die Nahrungsaufnahme an den Tag zu legen. 

Fertiggerichte führen in die Irre

Nun dient die Nahrungsaufnahme in erster Linie der Versorgung des Körpers mit Energie und Nährstoffen. Idealerweise stehen Energieverbrauch und Nahrungsaufnahme im Gleichgewicht. Doch in Zeiten von Fertiggerichten und stark verarbeiteten Nahrungsmitteln ist das schwierig. Denn das Essen auf unseren Tellern trickst die grauen Zellen immer wieder aus.

Laut Tierexperimenten antworten Neurone im Hypothalamus unterschiedlich, abhängig davon, wie kalorienreich eine Nahrung ist. Sie messen also den Kaloriengehalt. „Sofern man schon Erfahrung mit einem Nahrungsmittel hat, reicht sogar der pure Anblick der Speise, damit die Neurone den Kaloriengehalt messen können“, sagt Tittgemeyer. 

Durch stark verarbeitetes Essen könnten diese Neurone in die Irre geführt werden. Fertiggerichte etwa haben meist sehr viel mehr Kalorien als man damit auf Grund seiner Erfahrung verbindet. „Da die Neurone die Kalorien unterschätzen, wird man am Anfang viel davon essen“, so Tittgemeyer. Aber mit der Zeit lernen die Neurone im Rahmen eines gesunden Metabolismus dazu, und man wird sich bei Fertiggerichten mit kleineren Portionen begnügen. Nun aber kann das Belohnungssystem auf fatale Weise zum Zuge kommen. „Leider kann der Belohnungsimpuls auch dazu führen, dass wir von Nahrung mit einer hohen Belohnungswertigkeit wie Fertiggerichten immer mehr essen wollen“, so Tittgemeyer. Vielleicht gehe dabei die Fähigkeit verloren, den Kaloriengehalt zu messen. Und man esse immer mehr. „Man hat dann in Sachen Essen keinen freien Willen mehr, sondern es handelt sich um ein Diktat unseres Stoffwechsels."

Süße Versuchung ohne Sättigung

Problematisch sind auch Süßstoffe. Da Diabetes und Fettleibigkeit in den westlichen Ländern auf dem Vormarsch sind, klingen Süßungsmittel mit praktisch null Kalorien nach einer guten Lösung. Doch zumindest einige epidemiologische Studien deuten darauf hin, dass kalorienfreie Süßstoffe die entgegengesetzte Wirkung haben, und in Wahrheit zu einer erhöhten Energieaufnahme führen könnten. Was Süßstoffe im Gehirn anstellen, haben die Radiologin Anna van Opstal vom Leiden University Medical Center und ihre Kollegen unter die Lupe genommen. Wie ihre kleine Studie mit 16 männlichen Probanden nahelegt, sorgt Süßstoff offenbar für weniger Sättigung. So führte zwar der natürliche Zucker Glukose für eine länger anhaltende Deaktivierung des Hypothalamus. Die „Appetitregion“ wurde sozusagen heruntergefahren. Im Zuge der Einnahme des Süßstoffs Sucralose hingegen verminderte sich die Aktivität des Hypothalamus nur gering und auch nur kurzfristig. Offenbar, so die Forscher, führt der fehlende Kaloriengehalt von Süßstoffen zu keiner vergleichbaren Sättigung wie natürlicher Zucker. Die ausbleibende Sättigung könnte der Grund dafür sein, dass wir angesichts von Süßungsmitteln erst recht einen Heißhunger entwickeln. 

Den gleichen Effekt wie Sucralose hat übrigens auch die Fructose, also der natürliche Fruchtzucker. Im Allgemeinen sind es jedoch die hochgradig verarbeiteten Lebensmittel, die den Körper mit ihrer „unnatürlichen“ Zusammensetzung vor Probleme stellen. Bis ins industrielle Zeitalter kamen in der Nahrung des Menschen entweder Fett und Proteine zusammen vor (das erlegte Mammut), oder Protein und Kohlehydrate (aus Pflanzen). Die in den 1970er Jahren erfundenen Kartoffelchips dagegen enthalten sowohl Fett als auch Kohlehydrate im Verhältnis 35:45 und oftmals noch Salz als weiteren Geschmacksträger dazu. Die Chips sind damit quasi die Vorlage für ungesunde Snack- und Fast-Foods. So gut sich Darm und Gehirn im Laufe der Evolution auch aufeinander eingespielt haben. Derartige Versuchungen stellen unsere natürlichen Ernährungsratgeber im Körper vor eine echte Herausforderung.    

Zum Weiterlesen:

  • Thanarajah , S.E., Tittgemeyer M.:   Food reward and gut-brain signalling.  Neuroforum | Band 26: Heft 1. doi: 10.1515/nf-2019-0020 (Volltext: https://doi.org/10.1515/nf-2019-0020)
  • Thanarajah , S.E.  et al.: Food Intake Recruits Orosensory and Post-ingestive Dopaminergic Circuits to Affect Eating Desire in Humans.  Cell Metab . 2019 Mar 5;29(3):695-706.e4. doi: 10.1016/j.cmet.2018.12.006. Epub 2018 Dec 27 (abstract: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30595479/)   
  • Opstal A M van  et al.: Dietary sugars and non-caloric sweeteners elicit different homeostatic and hedonic responses in the brain.  Nutrition 2019 Apr;60:80-86. doi: 10.1016/j.nut.2018.09.004. Epub 2018 Sep 13. (abstract: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30529886/)

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