Sind wir unser Konnektom?
Weltweit sind Wissenschaftler dabei, einen Schaltplan des Gehirns anzufertigen. Macht die Gesamtheit aller Nervenbahnen unser Ich aus?
Scientific support: Prof. Dr. Markus Morawski
Published: 30.04.2021
Difficulty: easy
- Als Korbinian Brodmann Ende des 19. Jahrhunderts die erste Karte des Gehirns erstellte, ging es ihm noch darum, einzelnen Hirnarealen Funktionen zuzuschreiben.
- Heute denken Forscher eher in Netzwerken. Forscher wie Olaf Sporns erkannten, dass die Funktion von Nerven auch durch ihre Verbindungen realisiert werden.
- Es gibt grobe Karten des Gehirns, die die langen Nervenfasern der weißen Substanz nachzeichnen.
- Wesentlich kniffliger ist es, eine detaillierte Karte der Denkzentrale zu erstellen, die auch die einzelnen Nervenzellen mitsamt ihren kleineren Fortsätzen und Synapsen verzeichnet.
- Um den Weg der Nervenbahnen mit einer mikroskopischen Auflösung zu verfolgen, bedarf es selbst bei sandkorngroßen Hirnstückchen jahrelanger Rekonstruktionsarbeit mit Hilfe von Algorithmen und Manpower.
„Nur“ 100.000 Neurone weist das Gehirn von Fruchtfliegen auf. Die haben nun Forscher von Google und der Cambridge University komplett kartiert . Dafür haben sie das Fliegenhirn in Tausende von 40 Nanometer dünnen Scheiben geschnitten, mit einem Elektronenmikroskop abgefilmt und die 2D-Schnitte in ein 3D-Volumen des gesamten Gehirns umgewandelt. Mit Hilfe von Algorithmen zeichneten sie anschließend die Wege der Nervenbahnen nach.
Geht es nach Sebastian Seung, entspringt unser Ich einem Wald. Keinem Wald aus Bäumen, versteht sich. Vielmehr dem Wald in unserem Kopf, den 86 Milliarden Neuronen, mit ihren jeweils rund 1.000 sich verästelnden Verbindungen und variablen Kontakten (Synapsen) zu anderen Nervenzellen. In seinem Buch „Das Konnektom“ beschreibt der Informatiker und Neurowissenschaftler von der Princeton University den majestätischen Wald in unserem Schädel und behauptet: „Du bist dein Konnektom“. Das Konnektom ist die Gesamtheit aller Verbindungen im Gehirn. Ist also unser Ich nur eine Frage der richtigen Verbindungen?
Als Korbinian Brodmann Ende des 19. Jahrhunderts zu seinen Entdeckungsreisen durch die unbekannten Weiten des Gehirns aufbrach, ging es ihm vor allem darum, einzelne Hirnregionen voneinander abzugrenzen. Er zog zu diesem Zweck Arbeiten heran, die Funktionsausfälle nach Hirnschädigungen aufzeigten. Auf die mit viel Forscherherzblut akribisch erstellten Karten des Gehirns und die nach ihm benannten Brodmann-Areale nehmen Wissenschaftler heute noch immer Bezug. Meist erstellen sie ihre Karten heute allerdings mit bildgebenden Verfahren, die beispielsweise jene Gebiete darstellen können, die bei einer bestimmten Tätigkeit oder Aufgabe die maximale Aktivität entfalten.
Den Begriff „Konnektom“ prägten Forscher um den Neurowissenschaftler Olaf Sporns von der Indiana University erstmals 2005 in einem Aufsatz. Darin betonen sie zwar die Fortschritte durch bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomografie, die vor allem von der Frage angetrieben wird, wo im Gehirn bestimmte geistige oder motorische Leistungen realisiert sind. Allerdings ließen sich die Ergebnisse der Bildgebung bislang nur sehr begrenzt interpretieren, so Sporns. Es fehle schlicht an Informationen über die Struktur und Dynamik der Netzwerke, die die beobachteten Aktivierungsmuster erzeugen. Forscher wie Sporns erkannten, dass die Funktion von Nervenzellen auch im Verbund realisiert wird und nicht allein durch lokale Verschaltung. Das Mantra der Konnektom-Verfechter bringt Sebastian Seung in seinem Buch auf den Punkt: „Die Funktion eines Neurons ist hauptsächlich definiert durch seine Konnektivität mit anderen Neuronen.“
Weltweit sind Wissenschaftler seitdem dabei, eine Art Schaltplan des Gehirns anzufertigen. Zum einen arbeiten sie an groben Karten des Gehirns. Sie zeigen, wie die längeren Nervenfasern der so genannten weißen Substanz die einzelnen Hirnregionen miteinander verbinden. Konnektomforscher greifen dafür auf die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) zurück. Sie ist eine Variante der Magnetresonanztomografie, die die Bewegung von Wassermolekülen im Gehirn misst. Da sich das Wasser in langgestreckten Zellen wie Neuronen bevorzugt in Richtung der Längsachse fortbewegt, lässt sich der Verlauf der Nervenfasern abschätzen.
In einer viel zitierten Studie im Fachblatt „Science“ konnte der Neurowissenschaftler Van J. Wedeen vom Massachusetts General Hospital zeigen: Die Nervenfasern von Menschenaffen und Menschen sind keineswegs chaotisch angeordnet. Sie verlaufen vielmehr entlang paralleler Bahnen, die sich mitunter in nahezu rechten Winkeln kreuzen, ähnlich einem gewebten Stück Stoff. Diese Anordnung ist möglicherweise die effektivste Struktur, mit der die Verschaltung des Gehirns während der Evolution weiterentwickelt werden konnte.
Die Maus als Modell
Weitaus kniffliger wird es allerdings, eine detaillierte Karte der Denkzentrale zu erstellen, die auch die einzelnen Nervenzellen mitsamt ihren kleineren Fortsätzen und Synapsen verzeichnet. Hier müssen sich Forscher bisher mit Modellorganismen wie der Maus begnügen, die „nur“ etwa 100 Millionen Nervenzellen besitzt. Wie mühsam die Kartierung dennoch ist, weiß Moritz Helmstaedter aus eigener Erfahrung nur zu gut. Gemeinsam mit Kollegen ist es dem Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt bereits vor einigen Jahren gelungen, ein winziges Stückchen der Netzhaut einer Maus zu rekonstruieren. Der Netzhautwürfel von der Größe eines Sandkorns hatte gerade einmal einen Zehntel Millimeter Kantenlänge, Dennoch enthielt er fast 1.000 Nervenzellen mit rund einer halben Million Verbindungen.
In dem Gewebe der Netzhaut sind die Nervenzellen dicht gepackt ‑ die dünnsten Nervenfortsätze sind hier im Durchmesser weniger als 50 Nanometer dick, während die meisten Nervenfasern im Gehirn einen 6- bis 100-mal größeren Durchmesser haben. Das dichte Gewirr von Nerven ist wie ein Berg von Spaghetti. Für ihre digitale 3D-Karte schnitten die Forscher den Spaghetti-Berg in hauchdünne Scheiben und scannten die Schichten mit einem Elektronenmikroskop. Jedes Nervenkabel hat seinen eigenen Weg und oft befinden sich einige Kabel direkt nebeneinander. Daher ist es manchmal ganz schön knifflig zu entscheiden, welche Faser zu welcher Zelle gehört. Die Forscher griffen hierfür neben der Hilfe von Algorithmen auf die Manpower von rund 300 Studenten zurück. Vier Jahre nahm die Rekonstruktion insgesamt in Anspruch. Gelohnt hat sich die Fleißarbeit schon deshalb, weil die Wissenschaftler einen neuen Typ Nervenzelle in der Netzhaut der Maus ausmachen konnten. Und tatsächlich gelang es ihnen ganz im Sinne des Mantras der Konnektionisten von der Vernetzung dieses Typs von Nervenzelle auf die Funktion zu schließen. Sie vermuten, dass es sich um einen Helligkeitssensor handelt. Er spielt möglicherweise eine Rolle dabei, unterschiedliche Lichtverhältnisse der Außenwelt zu ignorieren.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Synapse
Synapse/-/synapse
Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.
Netzhaut
Netzhaut/Retina/retina
Die Netzhaut oder Retina ist die innere mit Pigmentepithel besetzte Augenhaut. Die Retina zeichnet sich durch eine inverse (umgekehrte) Anordnung aus: Licht muss erst mehrere Schichten durchdringen, bevor es auf die Fotorezeptoren (Zapfen und Stäbchen) trifft. Die Signale der Fotorezeptoren werden über den Sehnerv in verarbeitende Areale des Gehirns weitergeleitet. Grund für die inverse Anordnung ist die entwicklungsgeschichtliche Entstehung der Netzhaut, es handelt sich um eine Ausstülpung des Gehirns.
Die Netzhaut ist ca 0,2 bis 0,5 mm dick.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
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Flug durchs Hirn
Die immense Arbeit schreckte Moritz Helmstaedter keineswegs ab. Denn gleich nach der Netzhaut lockte ihn die Hirnrinde der Maus. Der Neurowissenschaftler und seine Kollegen machten sich daran, einen kleinen Teil des somatosensorischen Cortex aufzunehmen und nachzubilden. Für die Maus ist das ein wichtiger Teil der Großhirnrinde. Denn in ihm werden Informationen aus den Schnurrhaaren auf ihrer Schnauze verarbeitet. Über Berührungen dieser Haare kann die Maus auch in der Dunkelheit etwas über ihre Umwelt in Erfahrung bringen.
Da die Rekonstruktion eine noch größere Herkulesarbeit zu werden versprach, war der Plan ursprünglich, auf die Hilfe von Tausenden von Bürgerwissenschaftlern zu setzen. Sie sollten im Rahmen des virtuellen Spiels Brainflight an Bord eines Flugzeugs durch die Großhirnrinde der Maus düsen und den Verlauf von Nervenfortsätzen bestimmen. Doch es kam anders: „Tatsächlich haben wir die auf künstlicher Intelligenz basierenden Rekonstruktionsmethoden schneller als gedacht verbessern können“, sagt Helmstaedter. „So konnten wir mit Tausenden Arbeitsstunden von Studenten die nötige Rekonstruktionsleistung erreichen.“
Von Brainflight ist eine Art Flugmodus im Online-Browser geblieben, in dem die Studenten eine schnelle Abfolge von Hirnschnitten gezeigt bekamen. Wie in einem Daumenkino konnten sie so einer Nervenfaser von Schnitt zu Schnitt folgen. Im Rahmen ihrer 2019 veröffentlichten Rekonstruktion bildete das Team um Helmstaedter rund 400.000 Synapsen und 2,7 Meter neuronalen Kabels in dem Würfel nach. Das ergab ein Konnektom, das etwa 26 Mal größer ausfiel als das, was sie aus der Netzhaut der Maus gewonnen hatten.
Sind wir unser Konnektom?
Der Sprung von einem winzigen Stück Hirnrinde der Maus hin zum gesamten menschlichen Gehirn wird gewaltig sein und die Rekonstruktion vermutlich viele Jahrzehnte harter Arbeit in Anspruch nehmen. Doch schon heute kann man eine Antwort auf Sebastian Seungs Frage geben, ob wir unser Konnektom sind: Das Konnektom bestimmt einen wesentlichen Teil unserer Identität. Wie Untersuchungen in den vergangenen Jahren ergaben, sind Aufbau und Dichte des Geflechts in unserem Kopf entscheidend für zahlreiche Leistungen des Gehirns – von der Motorik über kognitive Fähigkeiten wie Lesen und Rechnen bis hin zu Kreativität und Intelligenz. Aber werden wir wirklich vollkommen von den Verschaltungen in unserem Oberstübchen geprägt?
Das fragt sich auch der Neurowissenschaftler David Eagleman von der Uni Stanford in seinem Buch „The Brain: Die Geschichte von dir“: „Könnte dieser Schnappschuss sämtlicher Schaltkreise deines Gehirns tatsächlich ein Bewusstsein haben – dein Bewusstsein?“ Seine Antwort: „Leider nein, denn ein Schaltplan ist ja nur die Hälfte des lebendigen Gehirns.“ Die andere Hälfte sei die elektrische und chemische Aktivität zwischen diesen Verbindungen. „Die Alchemie des Denkens, Fühlens und Bewusstseins entsteht erst aus den Aberbilliarden von Interaktionen, die sich Sekunde für Sekunde zwischen den Gehirnzellen abspielen: Botenstoffe werden ausgeschüttet, Proteine verändern ihre Form, elektrischer Strom fließt durch die Axone der Gehirnzellen.“ Und man darf nicht vergessen: Auch das Gehirn ist keineswegs eine Insel, es ist nicht losgelöst vom restlichen Körper, – und der hat bei unserem Erleben auch noch ein Wörtchen mitzureden. Man denke nur an den Darm und seine Verstrickungen mit dem Gehirn. So produzieren etwa unsere Darmbakterien Botenstoffe – oder deren Vorstufen –, die unsere Stimmung beeinflussen.
Auch wenn der Wald aus Neuronen in unserem Schädel unermesslich groß scheint und sicherlich einen wesentlichen Teil unserer Identität und unseres Erlebens bestimmt: Er ist längst nicht alles.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Intelligenz
Intelligenz/-/intelligence
Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
Axon
Axon/-/axon
Das Axon ist der Fortsatz der Nervenzelle, der für die Weiterleitung eines Nervenimpulses zur nächsten Zelle zuständig ist. Ein Axon kann sich vielfach verzweigen, und so eine Vielzahl nachgeschalteter Nervenzellen erreichen. Seine Länge kann mehr als einen Meter betragen. Das Axon endet in einer oder mehreren Synapse(n).
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.