Bewegte Sinne
Reiz – Verarbeitung – Reaktion: Diese Kette kennen wir aus der Schule. Doch in Wahrheit arbeiten Sensorik und Motorik schon früh in der Verarbeitung von Sinnesreizen zusammen.
Scientific support: Prof. Dr. Julia Schiemann
Published: 21.12.2021
Difficulty: intermediate
- Reize aus der Umwelt aktivieren die Sinnesorgane, Nervenzellen senden die Information ans Gehirn, das auswertet und Befehle an die Muskeln sendet und so eine Bewegung auslöst.
- Sensorik und Motorik interagieren jedoch schon früh in der Verarbeitung.
- Das Gehirn trifft ständig Vorhersagen darüber, wie ein Input aus den Sinnesorganen wie den Augen ausfallen wird, und gleicht dies mit dem tatsächlichen Input ab. So rechnet es Eigenbewegungen heraus; unser Bild von der Welt bleibt stabil.
Der Corpus geniculatum laterale (CGL) befindet sich im Thalamus und ist Teil der Sehbahn. Seine Neurone senden visuelle Informationen an den visuellen Cortex. Weniger bekannt ist, dass es auch eine Feedbackschleife in die andere Richtung gibt. Der Cortex scheint also seinen eigenen Eingang zu beeinflussen und beispielsweise flexibel die Antwortstärke des CGL zu erhöhen. Nun ist es so: Bewegung kann den Thalamus hochregulieren. Für die Neurowissenschaftlerin Laura Busse von der LMU München stellt sich daher die Frage: Wird der Thalamus einfach dadurch moduliert, dass Körperbewegung den visuellen Cortex hochreguliert und diese Modulation durch eine Feedbackschleife an den Thalamus weitergibt? Dazu hat sie gemeinsam mit Kollegen Experimente gemacht: Mit Hilfe von optogenetischen Tricks hat das Team den visuellen Cortex bei Mäusen zeitweise ausgeschaltet. Doch noch immer regulierte Bewegung den Thalamus hoch. An der Feedbackschleife allein kann der Effekt demnach nicht liegen. Eine mögliche Erklärung: Botenstoffe, die den Thalamus direkt erreichen, könnten entscheidend daran beteiligt sein, den Thalamus bei Bewegungen hochzuregulieren.
Es scheint so einfach zu sein. Rein, raus. Ein Reiz kommt rein, eine Reaktion geht raus. Fliegt etwa ein Ball frontal auf uns zu, reizt das die Augen. Nervenzellen leiten diese Information in Form von elektrischen Signalen ans Gehirn, das die Informationen dann verarbeitet: den Ball, seine Flugrichtung und seine Geschwindigkeit. Anschließend feuert es Befehle in Richtung Muskeln. Als Reaktion bewegen sich Arme und Hände, wir fangen den Ball.
Diese Kette der Verarbeitung trennt das sensorische System vom motorischen System und erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Doch die Wirklichkeit ist wie so oft komplizierter. Denn beide Systeme interagieren schon früh in der neuronalen Verarbeitung. Nicht nur die Sensorik beeinflusst die Motorik. Auch die Motorik beeinflusst die Sensorik.
Dabei wird eines deutlich: Das Gehirn reagiert nicht nur, es agiert. Es versucht, in die Zukunft zu schauen. "Unser Gehirn trifft ständig Vorhersagen darüber, wie ein Input aus den Sinnesorganen, wie den Augen, ausfallen wird", sagt der Neurobiologe Mark Hübener vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. "Viele Neurone sind damit beschäftigt, den erwarteten sensorischen Input mit dem tatsächlichen abzugleichen." Im Grunde geht es dabei um eine sehr alte Frage, die sich bereits der bedeutende deutsche Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz im 19. Jahrhundert gestellt hat: Wie kommt es, dass unser Bild von der Welt stabil bleibt und nicht wackelt, obwohl wir dauernd die Augen und den Kopf bewegen und sich damit ständig das Bild auf der Netzhaut, fachlich Retina , verschiebt?
Schwenkt man eine Kamera hin und her, führt das zu einem verschwommenen Bild. Und im Prinzip müsste es mit dem Sehen genauso sein. Ist es aber nicht. „Die Idee ist nun: Das visuelle System bekommt eine Kopie der Bewegungsbefehle, die für die Eigenbewegung der Augen und des Kopfes sorgen", sagt Hübener. Forscher sprechen von einer Efferenzkopie. "Dabei wird der sensorische Input, der auf Grund der Stärke und Richtung unserer Augen- und Kopfbewegungen zu erwarten ist, mit dem tatsächlichen Input abgeglichen", so der Neurobiologe. Gibt es keinen Unterschied, bleibt unser Bild von der Welt stabil. Dadurch werden die Eigenbewegungen aus dem visuellen Input herausgerechnet. Man kann dieses System übrigens austricksen. Wenn man mit einem Finger durch sanften Druck auf das Lid den Augapfel vorsichtig hin und herschiebt, bewegt sich plötzlich die eigentlich statische Welt.
Um Augen- oder Kopfbewegungen entgegenzuwirken, setzt das Gehirn zudem auf Ausgleichsbewegungen. Das erforscht der Biologe Boris Chagnaud von der Universität Graz. „Die Efferenzkopien teilen dem visuellen System mit, wann und wie sich unser Kopf bewegt und das okulomotorische System gleicht dann diese Bewegungen aus“, so Chagnaud. Das okulomotorische System steuert gezielt die Bewegungen der Augen. „Es bewegt die Augen in die entgegengesetzte Richtung vom Kopf und hält den Blick somit stabil“, sagt der Biologe. Und auch das Rückenmark leistet einen Beitrag. Beim Gehen bewegen wir uns immer leicht auf und ab, und schwanken gleichzeitig ein wenig nach links und rechts. In der Folge verändert sich auch die Lage der Augen. „Diese passiven Augenbewegungen auszugleichen, hilft das Rückenmark“, sagt Boris Chagnaud. Es sendet die motorischen Signale als Kopie unter anderem an das okulomotorische System. Die Idee dabei ist immer, den Einfluss von Bewegungen auf die sensorischen Systeme so niedrig wie möglich zu halten.
Film statt Einzelaufnahmen
Dabei tricksen uns unsere eigenen Nervenzellen teilweise ziemlich aus. Das zeigt sich beim Lesen. Wir machen zielgerichtete Bewegungen mit den Augen, um Abschnitte einer Zeile zu fokussieren. Nun passen aber schnelle Augenbewegungen, Sakkaden genannt, nicht gut mit dem Scharfsehen zusammen. Daher informieren Efferenzkopien das visuelle System über die bevorstehenden Augenbewegungen. „Auch wenn wir es nicht bemerken: Während der Sakkaden blendet ein Teil des Gehirns, das so genannte frontal eye field, die bewegte visuelle Information aus“, so Boris Chagnaud. Wir bemerken dies nicht, sehen also keine Einzelaufnahmen, sondern gewissermaßen einen fortlaufenden Film. „Auf diesem Weg konstruiert das Gehirn einen Eindruck der Umgebung, die von unseren Augen so nicht wahrgenommen wird“, sagt Boris Chagnaud.
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Licht aus, Neurone an
Wie stark der Einfluss des motorischen auf das visuelle System ist, zeigt sich, wenn das Licht ausgeht. Mark Hübener bewies gemeinsam mit Kollegen, dass im Mäusegehirn bei Bewegungen motorische Signale im visuellen Kortex auftreten. Und zwar selbst dann, wenn die Wissenschaftler das Licht ausgeschaltet hatten oder bei den Versuchstieren beide Retinae defekt waren.
Der Neurowissenschaftler Georg Keller vom Friedrich-Miescher-Institut in Basel fand mit Kollegen heraus, dass die motorischen Signale vom anterioren cingulären Cortex und dem sekundären motorischen Cortex zum visuellen Cortex laufen. Beide Areale haben mit der Steuerung von Bewegungen zu tun. "Diese Signale könnten ein neuronales Korrelat der Efferenzkopie sein", vermutet Mark Hübener. Auf diesem Weg werde der visuelle Cortex mit der Information versorgt, wie stark sich die visuelle Welt durch die Bewegungen der Maus voraussichtlich verändern wird.
"Eine andere Möglichkeit wäre, dass sich die Erwartungen aus der Erfahrung ableiten, die wir im Laufe unseres Lebens machen." Dann bräuchte das visuelle System keine direkte Kopie der motorischen Befehle, um Erwartungen zu erzeugen. Hübener nennt ein Beispiel: "Wir haben etwa schon Millionen Male die Erfahrung gemacht, wie stark sich die visuelle Welt bei einer bestimmten Augenbewegung verschiebt. Wir brauchen also nicht jedes Mal wieder aufs Neue eine Efferenzkopie zu erzeugen.“ Aber natürlich müsse auch diese gelernte Erfahrung durch Aktionspotentiale an den visuellen Cortex geleitet werden.
Einfluss auf allen Ebenen?
Doch die Motorik hat offenbar bereits auf einer früheren Verarbeitungsstufe als dem visuellen Cortex ein Wörtchen mitzureden. Das legt zumindest die Forschung von Laura Busse nahe, Neurowissenschaftlerin an der LMU in München. Sie hat bei Mäusen die elektrische Aktivität von Neuronen im Corpus geniculatum laterale (CGL) des Thalamus, einem Teil der Sehbahn, gemessen. „Die Zellen im CGL haben im Durchschnitt stärker geantwortet, wenn sich die Mäuse bewegt haben“, sagt Busse. „Außerdem war gewissermaßen der Lautstärkeregler der Zellen wie bei einem Radio stärker aufgedreht, so dass die Nervenzellen mit höherer Sensitivität reagieren konnten.“
Eine mögliche Erklärung: Schon auf der Ebene des Thalamus beeinflusst die Motorik die Sensorik. Laura Busse ist allerdings vorsichtig. Auch eine andere Erklärung sei denkbar. Wenn man sich bewegt, sei man allgemein aktivierter, es komme zu einer vermehrten Ausschüttung von Botenstoffen wie Acetylcholin, die die Aktivität von Nervenzellen beeinflussen. „Es könnte also sein, dass nicht der motorische Einfluss für die stärkere Antwort der Neurone im CGL verantwortlich ist, sondern der allgemein höhere Erregungszustand – oder eine Kombination aus beidem.“
Mark Hübener hingegen geht sogar noch einen Schritt weiter. Es gebe sogar vorsichtige Hinweise, dass bereits auf der Ebene der Retina die Aktivität von Neuronen durch Bewegungen beeinflusst wird. Aus all diesen Erkenntnissen ergibt sich für Hübener eines: "Der Abgleich von erwartetem und tatsächlichem sensorischen Input findet nicht nur an einer Stelle im Gehirn statt, sondern auf allen möglichen Ebenen der Verarbeitung.“ Für das Gehirn sei dieser Abgleich wichtig. Denn wenn sich die Welt in erwartbarer Weise auf Grund von Eigenbewegungen verändere, sei das weitgehend irrelevant. „Gibt es hingegen stärkere Veränderungen in der Welt, etwa weil sich ein anderes Tier vor mir bewegt und mich angreift, dann müssen Gehirn und Organismus reagieren."
Zum Weiterlesen
- Leinweber, M. et al.: A Sensorimotor Circuit in Mouse Cortex for Visual Flow Predictions. Neuron 2017 Dec 6;96(5):1204.
- Straka, H. et al.: A New Perspective on Predictive Motor Signaling. Curr Biol, 2018 Mar 5;28(5):R232-R243