Wie Menschen sich an Ich-freie Erlebnisse erinnern können
Menschen, die intensiv meditieren, berichten von Erinnerungen an Zustände, in denen ihr Ich-Gefühl verschwindet. Ist so etwas überhaupt möglich?
Published: 17.05.2022
Psychoaktive Substanzen oder Meditation können bei Menschen die Wahrnehmung auslösen, dass sich das Ich auflöst und im Erleben nicht zugegen ist. Ob man Berichte über Erinnerungen an solche Erlebnisse ernst nehmen muss, haben die Philosophen Dr. Raphael Millière von der Columbia University New York und Prof. Dr. Albert Newen von der Ruhr-Universität Bochum analysiert. Sie kommen zu dem Schluss, dass selbstvergessene Erinnerungen möglich sind. Ihre Argumentation beschreiben sie in der Zeitschrift „Erkenntnis“, online veröffentlicht am 12. Mai 2022.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
Hinweise auf Vorliegen von Ich-freien Erlebnissen
Von Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen, etwa nach Schlaganfällen, ist bekannt, dass einzelne Facetten dieser Ich-Wahrnehmung gestört sein können. „Außerdem weiß man, dass sich neurale Verarbeitungen unter Meditation deutlich verändern“, sagen Newen und Millière „Wir sollten also anerkennen, dass es Erlebnisse ohne jede Facette des Ichs gibt.“ Aber selbst dann bleibt fragwürdig, ob man sich daran erinnern kann, erläutert Newen: „Wenn jemand eine Erinnerung an ein Ich-freies Erlebnis beschreibt, ist er beim Erinnern in einem Zustand des Selbstbewusstseins – und wie kann er sich an eine Episode erinnern, wenn er nicht auch schon im ursprünglichen Erlebnis ein Bewusstsein von sich hatte?“
Erklärung mit dem Bochumer Modell des Erinnerns
Das Bochumer Modell des Erinnerns, das in der Forschungsgruppe 2812 entwickelt wird, geht davon aus, dass Menschen beim Erinnern ein Szenario konstruieren. Zudem ergänzen sie in der Konstruktion normalerweise zwei Ich-Facetten: Sie erfassen, dass sie selbst es sind, die in die Szene involviert sind, und dass die Erinnerung ihre eigene ist. Die Forscher sprechen von Selbstinvolviertsein und Meinigkeit der Erinnerung.
Newen und Millière führen an, dass Selbstinvolviertsein und Meinigkeit jedoch getrennte Aspekte sein müssen. Denn manche Patienten beschreiben, in eine Episode involviert gewesen zu sein („Ich erinnere mich an die Szene, in der ich etwas getan habe“), ohne die Erinnerung als sich selbst zugehörig zu empfinden – die Meinigkeit der Erinnerung fehlt. Die beiden in der Konstruktion ergänzten Ich-Facetten können in der ursprünglichen Erinnerung fehlen und kommen dann erst im Konstruktionsprozess dazu. Selbst wenn das ursprüngliche Erlebnis keinerlei Facetten des Ichs beinhaltete und ohne solche in der Gedächtnisspur hinterlegt ist, kann man Facetten des Ichs in die Konstruktion einbeziehen. Eine Erinnerung an Ich-freie Erlebnisse und die Berichte davon sind somit ernst zu nehmen.
Engramm
Engramm/-/engram
Ein Engramm, auch als Gedächtnisspur bezeichnet, ist eine neuronale Entsprechung von Gedächtnisinhalten. Es wird vermutet, dass Lernprozesse auf strukturellen Veränderungen in synaptischen Verbindung von Neuronen beruhen.
Originalpublikation
Raphael Millière, Albert Newen: Selfless memories, in: Erkenntnis, 2022, DOI: 10.1007/s10670-022-00562-6