Wie die Stabheuschrecke instinktiv weiß, was ihre Beine machen
Neue Erkenntnisse zur Regulierung der intuitiven und reflexartigen Körperwahrnehmung bei Insekten
Published: 27.07.2022
Eine neue Studie zeigt, wie Körperhaltungsreflexe bei Stabheuschrecken unter verschiedenen Belastungen moduliert werden. Wissenschaftler*innen der Uni Köln und der Ohio University (USA) verfolgten die Last- und Bewegungssignale von den Sinnesorganen im Bein des Insekts durch das verarbeitende neuronale Netzwerk, bis zu den Motoneuronen und Muskeln, die den Reflex erzeugen. So konnten sie einen Mechanismus aufzeigen, der die Körperhaltungsreflexe in den Beinen von Stabheuschrecken je nach Belastung verändert. Die Studie ist im Fachjournal Current Biology erschienen.
Wenn sie die Augen schließen und auf Ihren Fuß zeigen sollen, werden die meisten Menschen damit keine Schwierigkeiten haben, ganz gleich, wo sich der Fuß befindet. Das scheint einfach zu sein, ist aber eine außerordentlich schwierige Aufgabe für das Nervensystem, denn es muss die Haltung und Position des Körpers und aller seiner Gliedmaßen ständig überwachen, und zwar ausschließlich über interne Sinneskanäle. Dieser Sinn für unser körperliches Selbst wird Propriozeption genannt. Die Propriozeption ist ein so grundlegender Bestandteil unserer Existenz, dass wir sie nur selten bewusst wahrnehmen. Ein Beispiel für die Propriozeption, das den meisten Menschen bekannt ist, ist der Kniesehnenreflex - das Antippen der an der Kniescheibe inserierenden Patellasehne durch einen Arzt oder eine Ärztin und die daraus resultierende Streckung des Beins durch Kontraktion des Quadrizepsmuskels. Bei normalem Verhalten (z. B. beim Gehen) trägt dieser Reflex zur Stabilisierung des Kniewinkels bei und ist einer der zahlreichen propriozeptiven Mechanismen, die es Tieren und Menschen ermöglichen, zu stehen, zu laufen, zu schwimmen oder Ballett zu tanzen.
Wichtig ist, dass die Reaktion auf propriozeptive Eingaben kontextabhängig moduliert werden muss. So trägt der Kniesehnenreflex beispielsweise zur Stabilisierung des Körpers nach einem Sprung bei, wird aber beim Laufen unterdrückt. Die kontextabhängige Regulierung erfordert, dass das Nervensystem die Signale von Bewegungs-, Belastungs- und Lagesinnesorganen integriert. Wie diese Integration auf neuronaler Ebene erfolgt, war lange Zeit eine offene Frage.
Dr. Corinna Gebehart und Prof. Dr. Ansgar Büschges vom Institut für Zoologie der Universität zu Köln und Prof. Dr. Scott L. Hooper vom Department of Biological Sciences der Ohio University, Athens (USA), haben in Current Biology einen Mechanismus veröffentlicht, der durch unterschiedliche Belastungen die Bewegungsreflexe in den Beinen von Stabheuschrecken verändert. Ähnlich wie bei Säugetieren hat das "Kniegelenk" der Insektenbeine, das Femur-Tibia-Gelenk, einen Stabilisierungsreflex. Wenn dieses Gelenk gebeugt wird, reagiert das Nervensystem mit einer reflexartigen Streckung des Gelenks. Dieser Effekt wird durch ein neuronales Netzwerk im ventralen Nervenstrang der Insekten, dem Pendant zum Rückenmark der Säugetiere, vermittelt.
Die Wissenschaftler*innen verfolgten die propriozeptiven Last- und Bewegungssignale von ihren Sinnesorganen im Bein der Stabheuschrecke über das neuronale Netzwerk, das sie im ventralen Nervenstrang verbindet, bis zu den Motoneuronen und Muskeln, die den Reflex erzeugen. „Wir konnten zeigen, dass die Belastung des Beins die Stärke des Körperhaltungsreflexes durch einen neuronalen Prozess namens präsynaptische afferente Hemmung verringerte“, so Dr. Corinna Gebehart, Erstautorin der Studie. „Dieser Mechanismus verändert die Informationsübertragung im neuronalen Netz des Nervenstrangs so, dass die Reaktion der Motoneuronen und Muskeln auf den Bewegungsstimulus reduziert wird.“
Die verhaltensbezogene Bedeutung dieser Wechselwirkung zwischen Belastung und Bewegung wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass eine leichte Belastung auf das Tier einwirkt - ein Blatt, das auf ihm landet - und dass ein Widerstandsreflex auftreten sollte, um die Haltung des Beins konstant und das Tier aufrecht zu halten. Ist die einwirkende Last jedoch größer als das, was die Beinmuskeln aushalten können - ein Ast, der auf das Tier drückt - muss der Widerstandsreflex reduziert werden, das Gelenk muss sich beugen und der Körper des Tieres muss der größeren Last nachgeben, um Schäden am Bein zu vermeiden.
Die Propriozeption, ihre Integration derer Signale durch das Nervensystem und die daraus resultierenden motorischen Reflexe sind bei Säugetieren und Insekten erstaunlich ähnlich. Die Erkenntnisse aus der Stabheuschrecke werfen somit ein Licht auf potenziell allgemeine Mechanismen, mit denen Nervensysteme verschiedene Arten propriozeptiver Signale zu einem kohärenten internen Bild ihres Körpers kombinieren, und wie diese Verarbeitungspfade je nach Verhaltenskontext des Tieres angepasst werden können.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Propriozeption
Propriozeption/-/proprioceptive sensibility
Propriozeption ist der Sinn für sich selbst, genauer: die Position der eigenen Gliedmaße und die Lage des Körpers im Raum. Sie wird ermöglicht durch bestimmte Rezeptoren in Muskeln, Gelenken und Sehnen, die das Gehirn permanent informieren. Ebenso verrechnet werden visuelle Signale und solche aus dem Gleichgewichtssystem.
Rückenmark
Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord
Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-, Thorakal-, Lumbal und Sakralmark unterteilt.
Afferenz
Afferenz/-/afferent nerve fiber
Als Afferenz werden zuführende Nervenfasern bezeichnet. Afferente Nervenfasern übermitteln sensorische Information aus der Peripherie – zum Beispiel Reize der Haut – zum zentralen Nervensystem. Das Gegenteil ist Efferenz.
Hemmung
Hemmung/-/inhibition
Die neuronale Inhibition, oder auch Hemmung umschreibt das Phänomen, dass ein Senderneuron einen Impuls zum Empfängerneuron sendet, der bei diesem dazu führt, dass seine Aktivität herabgesetzt wird. Der wichtigste hemmende Botenstoff ist GABA.
Originalpublikation
Non-linear multimodal integration in a distributed network controls proprioceptive reflex gain in the insect leg; Corinna Gebehart, Scott L. Hooper, Ansgar Büschges; Current Biology 32, https://doi.org/10.1016/j.cub.2022.07.005