Fliegenhirn im Rechner
Im Vergleich zum Menschen besitzt Drosophila melanogaster ein winziges Gehirn. Das hilft Forschern dabei, die neuronale Prinzipien des Lernens und der Gedächtnisbildung besser zu verstehen – und könnte letztlich sogar der KI auf die Sprünge helfen.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Martin Göpfert
Veröffentlicht: 06.12.2022
Niveau: mittel
- Die Taufliege Drosophila dient als gängiger Modellorganismus. Neurobiologen schätzen die vergleichsweise geringe Komplexität des Fliegengehirns.
- Trotz der winzigen Größe lassen sich im Nervensystem der Fliege grundlegende neurologische Prozesse wie Lernen und Gedächtnisbildung erforschen.
- Anhand der in Experimenten gewonnenen Daten versuchen Forscher ein biologisch realistisches Computermodell zu erstellen.
- Damit wollen Forscher etwa universale Prinzipien kognitiver Fähigkeiten finden oder das Verhalten der Fliege unter verschiedenen simulierten Bedingungen erforschen.
- Die Erkenntnisse helfen nicht nur die Funktionsweise des Fliegengehirns besser zu verstehen, sondern auch die des menschlichen.
- Darüber hinaus könnte ein besseres Verständnis der neuronalen Arbeitsweise, bestimmte Computertechniken wie Künstliche Intelligenz (KI) oder neuromorphe Chips verbessern.
Wissenschaftler mögen Modelle – insbesondere, wenn es darum geht, komplexe Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren. Das hilft ihnen, die Funktionsprinzipien, des betrachteten Systems leichter nachzuvollziehen. Bei sehr unübersichtlichen, großen Systemen mit vielen beteiligten Komponenten und Faktoren, kommen die Modellierer aber selbst in Zeiten von Supercomputern an ihre Grenzen. So etwa beim menschlichen Gehirn: 86 Milliarden Nervenzellen sind auf verschlungenen Pfaden vernetzt und verschaltet – eine derartige Komplexität lässt sich bislang nicht in biologisch realistischen Simulationen programmieren. Hinzu kommt, dass Modelle stets auf Annahmen basieren, die im Vorfeld getroffen werden müssen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch ein solides Grundverständnis des zu modellierenden Systems – und das ist beim menschlichen Gehirn noch nicht in ausreichendem Maße gegeben.
Aus diesem Grund greifen manche Neurowissenschaftler auf neuronale Netzwerke zurück, die sich durch eine deutlich geringere Komplexität auszeichnen, so etwa die Gehirne von Insekten. Speziell die Taufliege Drosophila melanogaster – umgangssprachlich auch als Fruchtfliege oder Essigfliege bekannt – dient in diesem Zusammenhang als gängiger Modellorganismus ▸ Fliegen? Wieso Fliegen? . Genforscher nutzen die kleinen Insekten bereits seit mehr als hundert Jahren für ihre Versuche, weil sich ihr Erbgut leicht verändern und anschließend die Auswirkung des Eingriffs beobachten lässt. In den 1980er Jahren begannen auch Neurowissenschaftler, mit der Fliege zu experimentieren. Sie wissen zu schätzen, dass ihr zentrales Nervensystem deutlich weniger komplex ist als das des Menschen. Es besteht aus nur rund Hunderttausend Neuronen. 2022 ist es gelungen, den zellulären Aufbau des Zentralgehirns von Drosophila auf der Grundlage elektronenmikroskopischer Aufnahmen erstmals vollständig zu rekonstruieren.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Wie alle anderen auch
Für die neurobiologische Forschung ist es außerdem von Vorteil, dass das Verhaltensrepertoire der Fruchtfliege im Vergleich zu Säugetieren relativ gering ist, aber immer noch kompliziert genug, um spannend zu sein. Gleichzeitig ist ihr Nervensystem ausreichend vielschichtig, um Lern- und Gedächtnisleistungen zu ermöglichen und sich entsprechend zu verhalten. „Die Fliegen können zum Beispiel einen Kontext erlernen, der mit einer Belohnung oder Bestrafung assoziiert ist“, sagt Professor Martin Nawrot, Leiter der Arbeitsgruppe „Computational Systems Neuroscience“ an der Universität zu Köln. Das mag beispielsweise ein Duft sein, der auf Zuckerwasser hindeutet und von dem sie fortan angezogen werden. Es kann aber auch ein komplizierterer Kontext sein: So sind die Fliegen etwa in der Lage, eine Umgebung anhand von bestimmten Merkmalen negativ zu assoziieren und den Ort entsprechend zu meiden ▸ Smarte Fliegen .
Entsprechend gilt: „Trotz der vergleichsweise geringen Größe des Fliegengehirns laufen darin einfache neuronale Prozesse ab, die wahrscheinlich auf ähnliche Weise in Säugetieren und auch im Menschen stattfinden“, sagt Nawrot. Im Vergleich zu unserem Gehirn lässt sich das Nervensystem der Fruchtfliege jedoch, wie eingangs erwähnt, deutlich einfacher am Rechner modellieren. „Unser Ziel ist ein umfassendes funktionelles Computermodell, das biologisch realistisch das Gehirn der Fliege nachbildet“, erzählt Nawrot. Die dazu notwendigen Daten bekommt sein Team von anderen Forschungsgruppen, die im Labor Experimente an Drosophila durchführen. Hierbei fallen ganz unterschiedliche Information an, etwa über die anatomische Verschaltung der Neurone im Netzwerk und deren Aktivitätsmuster, über die beteiligten Signalmoleküle, oder über das Verhalten der Tiere.
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Lernen unter der Lupe
Gaia Tavosanis, Leiterin der Gruppe „Dynamik neuronaler Schaltkreise“ am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn und Professorin an der Universität Bonn, untersucht mithilfe der kleinen Fliege, wie Neuronen ihre Struktur aktiv verändern. Diese Fähigkeit unterstützt die Plastizität des Gehirns und ist somit wichtig für Lern- und Gedächtnisprozesse. „Wir erforschen die zellulären Mechanismen, die bei der neuronalen Strukturdynamik eine Rolle spielen“, erklärt Tavosanis. Hierzu schaut sich das Team zum Beispiel an, wie die Fliege Geruchsinformationen verarbeitet. Im Pilzkörper geschieht dies in speziellen Kontakt-Komplexen, den Mikroglomeruli, in denen mehrere Pilzkörper-Nervenzellen mit einzelnen Neuronen in Kontakt stehen, die Geruchsinformationen liefern. Erst kürzlich gelang den Forschern um Tavosanis der Beweis, dass sich während der Gedächtniskonsolidierung von Gerüchen die Mikroglomeruli strukturell verändern. „Wir wollen nun zum Beispiel die Ursache-Wirkungs-Beziehungen dieser Strukturanpassungen bei der Bildung von lang anhaltenden Geruchserinnerungen untersuchen“, sagt sie. Genau wie die Ergebnisse von Fiala, fließen diese Erkenntnisse künftig in das Computermodell von Nawrots Team ein. „Es soll diese Daten auf molekularer, physiologischer und der Netzwerkebene repräsentieren“, sagt Nawrot. Die Hoffnung ist, dass sich aus dem Computermodell bestimmte universale Prinzipien und Merkmale neuronaler Verarbeitung, Kommunikation und Speicherung ableiten lassen.
In der Tat haben Untersuchungen zur Geruchsverarbeitung der Fliege bereits Hinweise auf einen solchen fundamentalen Mechanismus geliefert. Bis vor kurzem dachte man noch, im Pilzkörper würden lediglich Feedforward-Prozesse ablaufen. Bei dieser Art der Informationsverarbeitung werden die eintreffenden Sinneswahrnehmungen letztlich nur gefiltert. Wie Nawrot und Kollegen jedoch in einer Publikation aus dem Jahr 2021 berichten, existieren im Pilzkörper offenbar auch Feedback-Mechanismen. Diese sind deutlich komplexer als ihre Feedforward-Pendants, da die eintreffenden Informationen direkt oder in modifizierter Form auf den Eingang des Systems zurückgeführt werden. Diese Rückkopplung kann etwa ein Verstärken oder Abschwächen eines Signals herbeiführen, was zum Beispiel beim Formen von Erinnerungen eine Rolle spielt.
Nachgebaut
Konkret ergaben die Modellierungen von Nawrot und Kollegen, dass die Fliege offenbar zur sogenannten „reward prediction“ fähig ist. In der Psychologie gilt dieser neuronale Feedback-Mechanismus als fundamentales Prinzip des Lernens. Unser Gehirn urteilt darüber, ob eine Erfahrung der Erwartung entspricht oder nicht. Im Fall der Fliege kann das ein bestimmter Duft sein, der üblicherweise auf Zuckerwasser hinweist. Führt dieser Geruch aber plötzlich nicht mehr zur süßen Flüssigkeit, weicht das Ereignis von der Erwartung ab. Fachleute sprechen hier vom „prediction error“, zu Deutsch „Vorhersagefehler“. Die Rückmeldung oder das Feedback hat zur Folge, dass sich neuronale Strukturen ändern. Lernt also auch die Fliege mittels „reward prediction“, obschon sie sich evolutionär stark von einem Säugetier oder gar dem Menschen unterscheidet? „Unsere These ist, dass es sich hier um einen uralten Mechanismus handelt, der auf der Ebene von Neuronen, Synapsen und neuronalen Schaltkreisen stattfindet“, sagt Nawrot.
Neben neuronalen Prozessen versuchen die Forscher, das Verhalten der Fliege zu modellieren. Das dient einerseits dazu, den Ausgang von Verhaltensexperimenten zu validieren, andererseits dazu, ihn vorherzusagen. Dazu lassen die Forscher die modellierte Fruchtfliege in einer simulierten Umgebung fliegen. Mit diesem autonomen Agenten in einer virtuellen Realität ließen sich sowohl die Grenzen des realen Experiments als auch die des eigentlichen Modells sprengen, so Nawrot. In dem digitalen Szenario können die Forscher dann Fragen nachgehen der Art: Wie findet die Fliege eine Futter- oder Duftquelle? Wie navigiert sie mithilfe ihres Geruchssinns? Wie nutzt sie dabei ihr Langzeit- oder Kurzzeitgedächtnis? Wie passt sie ihr Verhalten an ihren Energiezustand an? Denn, wenn sie längere Zeit kein Futter findet, muss sie irgendwann anfangen, risikoreicher zu agieren.
Darüber hinaus ließe sich mit einem simulierten Fliegengehirn in virtueller Umgebung etwa herausfinden, wie sich bestimmte pharmakologische Manipulationen auf die neuronale Aktivität und letztlich das Verhalten auswirken. Im Programmcode kann zum Beispiel dieser oder jener Mechanismus sehr wichtig sein. „Was passiert nun, wenn ich ihn unterdrücke?“, fragt Nawrot. „Wenn man auf diese Weise das echte Verhalten der Fliege richtig vorhersagen kann, weiß man, dass das Modell korrekt ist.“
Gelingt ein solches biologisch realistisches Computermodell des Fliegengehirns, ließe sich schließlich ein sogenanntes „upscaling“ versuchen, wie Nawrot es nennt. Bedeutet: Man weitet das Modell auf größere und damit komplexere Systeme aus. Naheliegend wäre zum Beispiel das Gehirn einer Honigbiene. Diese Insekten haben ein deutlich größeres Gehirn und damit auch ein viel umfangreicheres Verhaltensrepertoire. Sie können etwa kleine Mengen bezüglich ihrer Größe unterscheiden oder sich menschliche Gesichter merken. Mittels grundlegender Funktionsprinzipien von neuronalen Netzwerken – abgeschaut von der Fruchtfliege – lassen sich vielleicht dann auch größere Neuronennetzwerke wie die des Bienenhirns modellieren.
Bemerkenswert an dieser Art der Fliegenforschung ist zudem, dass sich die Erkenntnisse womöglich dazu nutzen lassen, um die Methoden der modernen Computertechnik zu verbessern. Noch ist die Künstliche Intelligenz (KI) weit davon entfernt, so schlau zu sein, wie der Mensch. „Wir können uns zum Beispiel schon nach einmaligen Treffen ein Gesicht merken. Die KI kann das nicht“, erklärt Nawrot. Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, dass das menschliche Denkorgan der KI weiterhin überlegen ist. Außerdem verbraucht unser Gehirn viel weniger Energie als Rechner, auf denen KI-Programme laufen. Vielleicht lassen sich die Mechanismen der neuronalen Arbeitsweise, die man in der Fliege identifiziert hat, technisch in einfachen Schaltkreisen realisieren, denkt Nawrot. Es ist vorstellbar, dass auf diese Weise irgendwann Computerchips nach Vorbild des Gehirns entstehen, so genannte neuromorphe Rechner. Eine Entwicklung, die dann – zumindest in Teilen – einer lästigen kleinen Fliege zu verdanken wäre.
Zum Weiterlesen
- Springer, M. & Nawrot, M.P.: A Mechanistic Model for Reward Prediction and Extinction Learning in the Fruit Fly, eNeuro 8(3), 20121
DOI: 10.1523/ENEURO.0549-20.2021 ( zum Volltext ) - Baltruschat, L. et al.: Circuit reorganization in the Drosophila mushroom body calyx accompanies memory consolidation, Cell Reports 34(11), 2021 DOI: 10.1016/j.celrep.2021.108871 ( zum Volltext )
- Hancock, C.E. et al.: Visualization of Learning-induced Synaptic Plasticity in Output Neurons of the Drosophila Mushroom Body γ-Lobe, Sci Rep. 2022 Jun 21;12(1):10421. doi: 10.1038/s41598-022-14413-5 ( zum Volltext )
- Rapp, H. & Nawrot, P.M. et al.: A spiking neural program for sensorimotor control during foraging in flying insects, PNAS 117(45), 2020. doi.org/10.1073/pnas.2009821117 ( zum Volltext )