Nervennetze: Von wegen fest verdrahtet
Nervensysteme als starre Schaltkreise zu betrachten, greift zu kurz. Stattdessen tauschen verschiedene Regionen Informationen untereinander aus und sorgen so für Flexibilität.
Scientific support: Prof. Dr. Jochen F. Staiger
Published: 10.03.2023
Difficulty: intermediate
- Gehirn und Nervensystem sind nicht fest miteinander „verdrahtet“, sondern sie beeinflussen sich gegenseitig.
- Mit dem Organisationsprinzip „Top-down“ wird die Aufmerksamkeit gezielt auf Elemente der Außenwelt gerichtet.
- Das Gegenstück zu „Top-down“ ist „Bottom-up“, also wenn die Aufmerksamkeit des Gehirns von Seiten der sensorischen Systeme erregt wird.
- Besonders gut erforscht ist die Reizverarbeitung im visuellen System. Es wird beispielsweise durch Bewegungen des Körpers beeinflusst, was die Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit in Abhängigkeit von der Außenwelt verändert.
Eigentlich scheint alles ganz einfach: Das Gehirn regiert, und der Körper reagiert. Nicht umsonst sprechen wir häufig vom Denkorgan, setzen es mit dem „Köpfchen“ oder dem „Schädel“ gleich – und tippen uns an die Stirn, wenn einer nicht richtig tickt. Doch viele alltägliche Beobachtungen lassen sich nicht mit dem einfachen Modell einer „Denkzentrale“ erklären, von der aus Befehle hierarchisch von oben nach unten weitergeleitet werden. Diesem Prinzip der „top-down“-Organisation von Nervennetzwerken steht das Prinzip des „bottom-up“ gegenüber, bei dem Informationen zunächst von den Sinnesorganen registriert, und dann – meist über mehrere Verarbeitungsschritte – nach „oben“ gemeldet werden.
Letzteres ist etwa der Fall, wenn auf einem Acker eine leuchtend rote Mohnblume unsere Aufmerksamkeit erregt. Dies geschieht, ohne dass wir geplant hätten, diese Blume zu betrachten, und ohne, dass wir gezielt nach ihr gesucht hätten. Bottom-up-Prozesse können neben Farbkontrasten auch Bewegungen, überraschende Berührungen oder außergewöhnliche Geräusche erkennen. Man vermutet, dass sie sich bei vielen Tieren herausgebildet haben, um Fressfeinde schnell zu erkennen und ihnen zu entkommen. Das top-down-Prinzip unterstützt dagegen zielgerichtetes Verhalten – etwa, wenn ein Raubtier sich an seine Beute anschleicht.
Aufmerksamkeit
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Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Zwei Netzwerkprinzipien fürs Überleben
Die zugrunde liegenden Prinzipien zu untersuchen, ist kompliziert – denn die beteiligten Nervennetzwerke führen eine Art Eigenleben. Weder sind sie reine Befehlsempfänger des Gehirns, noch schlichte Meldesysteme, die Informationen „nach oben“ schicken.
Am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München untersucht Herwig Baier mit seiner Projektgruppe das Phänomen am Zebrafisch, einem der beliebtesten Modellorganismen. Er konzentriert sich dabei auf bottom-up-Prozesse, deren Nutzen er folgendermaßen erklärt: „Um zu überleben müssen Tiere häufig Entscheidungen treffen, die auf unvollständigen sensorischen Informationen beruhen. Um Beute zu fangen oder ihren Fressfeinden zu entkommen, müssen die Larven der Zebrafische fähig sein, sich auf ein bestimmtes Objekt zu konzentrieren und ablenkende Stimuli zu ignorieren.“ Präsentiert man den Fischlein zwei Objekte gleichzeitig, sorgen dynamische neuronale Rechenvorgänge dafür, dass nur ein Stimulus ausgewählt, und das Verhalten darauf ausgerichtet wird.
Baier entwickelt mit seinem Team, ein Verhaltensparadigma, um diese neuronale Entscheidungssituation bei freischwimmenden Larven zu beobachten. Ein Ziel ist es, die neuronalen Schaltkreise zu identifizieren, in denen die Salienz – also das Hervorheben einzelner Stimuli – kodiert wird und die für die Selektion des entsprechenden Verhaltens sorgen. Schließlich geht es darum, die ursächlichen Zusammenhänge zwischen der neuronalen Aktivität und der visuellen Objekterkennung aufzudecken.
Mal Kompromiss, mal Alles oder Nichts
Unter den zahlreichen Techniken im Labor der Hirnforscher sind zwei besonders hilfreich, um die Aufmerksamkeit der Zebrafischlarven zu verfolgen und zu manipulieren: Die Zwei-Photonen-Mikroskopie erlaubt es in Kombination mit Verhaltenstests, diejenigen Neuronen zu identifizieren, die an diesem Prozess beteiligt sind. Die Optogenetik dagegen bietet einen Werkzeugkasten, um die Aufmerksamkeit nicht-invasiv mit Licht zu stören oder umzulenken.
Mit ihrer jüngst veröffentlichten Arbeit haben Baier und seine Kollegen zwei Nervennetzwerke identifiziert, deren Aktivitätsmuster die relative Wertigkeit (Salienz) konkurrierender visueller Objekte vorhersagen. Je nach Situation scheinen dabei zwei unterschiedliche Strategien zum Einsatz zu kommen: Wird ein Stimulus lediglich von einem Auge erkannt, entscheidet ein Nervennetz in der inneren Netzhaut nach dem Prinzip „Alles oder nichts“ (winner-take-all).
Deutlich komplizierter ist der Entscheidungsprozess, wenn man beiden Augen einen Reiz präsentiert. Hier gelang es den Forschen nachzuweisen, dass die Informationen zwischen einem Nervenknoten des Hinterhirns (Nucleus isthmi) und dem Dach des Mittelhirns (Tectum) hin- und herfließen. Beide Hirnhälften sind daran beteiligt. Die Berechnung der Wertigkeit beider Stimuli wird nun von deren relativer Lage zueinander beeinflusst. Die Aufmerksamkeit richtet sich dann entweder nur auf einen Stimulus (winner-take-all), oder es wird ein Durchschnittswert gebildet und die Aufmerksamkeit quasi zweigeteilt.
Mäuse in Bewegung
Ebenfalls in München untersucht Laura Busse die Gesetzmäßigkeiten der top-down-Regulation. Die bevorzugten Studienobjekte der Professorin an der Fakultät für Biologie der Ludwig-Maximilians-Universität sind dabei Mäuse. Sie kombiniert elektrophysiologische Messungen im Thalamus und im visuellen Cortex der Tiere mit den Methoden der Optogenetik, die es erlauben, Nervenschaltkreise zu manipulieren. Auch die CRISPR/Cas9-Technik , mit der sich Erbinformationen gezielt verändern lassen, kommt zum Einsatz.
Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage, wie sich körperliche Aktivitäten – vor allem Bewegung – auf die neuronale Informationsverarbeitung im frühen visuellen System auswirken. Busse bestätigte mit ihren Mitarbeitern, dass die visuelle Wahrnehmung der Tiere die Umgebung nicht einfach 1:1 widerspiegelt, sondern stark kontextabhängig ist. Dabei können sowohl unterschiedliche sensorische Stimuli mit dem visuellen System um Aufmerksamkeit konkurrieren, als auch frühere Erfahrungen und Ziele, die man den Mäusen durch die Gabe von Belohnungen antrainiert hat.
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Rückkoppelung zwischen Groß- und Zwischenhirn
Der Zustand des Gehirns zu einem bestimmten Zeitpunkt hat also einen fundamentalen Einfluss darauf, wie Informationen im visuellen Cortex verarbeitet werden. Konkret demonstrierte Busse bereits 2014 in einer vielbeachteten Arbeit , wie die Bewegung von Mäusen in einem Laufrad sich auf die V1-Neuronen in einer Art „Entkoppelung“ auswirkte und darüber hinaus zu vermehrter Aktivität in einer „Umschaltstation“ des Zwischenhirns führte, dem dorsalen Corpus geniculatum laterale (dLGN). Mit zunehmender Laufgeschwindigkeit erweiterten sich auch die Pupillen der Tiere – ein wichtiger Marker für Erregung (Arousal) und kognitive Prozesse. Ein ähnliches Phänomen konnten andere Arbeitsgruppen auch bei menschlichen Versuchspersonen beobachten: Hier verbesserte sich die visuelle Leistung, wenn die Probanden sich hinstellten, statt zu sitzen, oder wenn sie sich bewegten, statt still zu halten.
Inzwischen hat Busse mit ihrem Team weitere Details heraus gearbeitet und beschrieben, wie eine Rückkoppelungsschleife zwischen Cortex, dLGN und dem visuellen Sektor des – ebenfalls im Thalamus gelegenen – retikulären Nukleus (visTRN) die Verarbeitung räumlicher Informationen im Thalamus beeinflusst. Vereinfacht gesagt schärft der Cortex die Wahrnehmung im dLGN und unterdrückt ablenkende Signale mithilfe des visTRN. „All dies kann mit den neuen Methoden präzise dargestellt werden und man sieht, wie die Großhirnrinde praktisch ihren eigenen Input moduliert“, so Busse.
Aus der Modulation entsteht die Realität
Zwar handelt es sich hier um reine Grundlagenforschung, dennoch könnte die Entflechtung der komplizierten Regulationsprozesse auch zum Verständnis menschlicher Krankheiten beitragen – oder zumindest neue Hypothesen liefern, was bei psychischen Erkrankungen wie der Schizophrenie schieflaufen könnte. „Eine Vermutung ist, dass dabei auch Veränderungen der inhibitorischen Aktivität bestimmter Nervenschaltkreise eine Rolle spielen könnten“, erläutert Busse.
Bestimmte optische Täuschungen etwa werden von Schizophrenie-Patienten im Gegensatz zu gesunden Probanden nicht wahrgenommen. Diese Patienten sind unempfindlicher gegenüber dem Kontext, in dem ein Stimulus eingebettet wird. Natürlich würden Mausmodelle solch einer komplexen Krankheit nicht gerecht, sie könnten aber eine Erklärung für manche konkreten Defizite liefern, so Busse. Manche Stimuli werden bei Gesunden offenbar stärker moduliert: „Man könnte sagen, die Patienten sehen die Wahrheit, während die anderen eine modulierte Form der Realität wahrnehmen.“ Wer hätte gedacht, dass die Frage nach der Organisation von Nervennetzwerken zu derart erstaunlichen Einblicken führen würde?