Darm ganz ohne Charme

Grafik: MW

Das Mikrobiom im Darm und anderen Bereichen des Körpers dürfte mitverantwortlich sein für neurologische Erkrankungen wie Alzheimer und psychische Störungen wie Depressionen. 

Scientific support: Prof. Dr. Petra Wahle

Published: 02.05.2023

Difficulty: easy

Das Wichtigste in Kürze
  • Das sogenannte Mikrobiom umfasst nach heutigen Schätzungen etwa 39 Billionen Bakterien.
  • Ein bestimmtes Bakterium im Mundmikrobiom könnte mitverantwortlich sein für Alzheimer. 
  • Auch das Darmmikrobiom scheint eine Rolle zu spielen bei Alzheimer.  
  • Parkinson kann möglicherweise im Darm entstehen. 
  • Die Zusammensetzung des Darmmikrobioms beeinflusst unsere Stimmung, eine ungünstige Mischung kann offenbar Depressionen begünstigen.  
Mit Diät gegen MS

Multiple Sklerose (MS) ist eine neurodegenerative Erkrankung. Das eigene Immunsystem attackiert dabei die elektrische Isolierung der Nervenfasern und zerstört sie allmählich. Dadurch wird die Übertragung von Signalen in den Nerven gestört. Zumindest bei Mäusen veränderte eine Diät ohne den Eiweißbaustein Tryptophan die Zusammensetzung der Darmbakterien und schützte vor Symptomen einer experimentell erzeugten Multiplen Sklerose.

Wir sind nie alleine. Unser Körper gleicht einer riesigen Wohngemeinschaft: Auf ihm und in ihm leben unzählige Bakterien und Pilze Seite an Seite mit menschlichen Zellen. Das sogenannte Mikrobiom umfasst nach heutigen Schätzungen etwa 39 Billionen dieser Mikroorganismen. Damit liegt es in der Größenordnung der Zellzahl eines durchschnittlichen Erwachsenen – 30 Billionen. Die Mikroorganismen besiedeln vor allem den Darm, sind aber auch auf der Haut, im Mund oder im Vaginalbereich zu Hause. Das Mikrobiom bringt schätzungsweise 100-mal mehr Gene in den Körper ein, als der Mensch besitzt. Die Darmflora ist wichtig für die Verdauung, die Abwehr von Keimen und Giften sowie für die Stärkung des Immunsystems. Mehr und mehr stellt sich dabei heraus: Wie in einer WG kommt es auch in unserem Körper auf die richtigen Mitbewohner an, damit wir uns wohl fühlen. Bei den falschen WG-Genossen oder bei Störungen im Darm können wir leichter an seelischen oder neurologischen Krankheiten erkranken.    

Bevor wir zum Darm kommen, ein kleiner Blick in den Mund mit erstaunlichen Erkenntnissen. Oder wer hat schon auf der Rechnung, dass Zähneputzen möglicherweise vor Alzheimer schützen könnte? Klingt im ersten Moment ganz schön unglaubwürdig, macht aber auf den zweiten Blick durchaus Sinn. Und das kommt so. Das Bakterium Porphyromonas gingivalis ist der Übeltäter bei Parodontitis, der schwersten Form einer Zahnfleischerkrankung.  Jan Potempa von der Jagiellonian University im polnischen Krakau und seine Kollegen haben nun in einer Studie Gehirnproben von verstorbenen Menschen mit und ohne Alzheimer verglichen, die zum Zeitpunkt ihres Todes etwa gleich alt waren. Sie stellten fest, dass P. gingivalis in Proben von Alzheimer-Patienten häufiger vorkam. 

Das zeigte sich anhand eines DNA-Fingerabdrucks des Bakteriums und dem Vorhandensein seines Toxins Gingipain. Dieses Toxin zerstört Nervenzellen im Gehirn, was wiederum zu Gedächtnisverlust und schließlich zu Alzheimer führt. Untersuchungen an Mäusen förderten zu Tage, dass P. gingivalis aus dem Mund ins Gehirn wandern kann. Gaben die Forscher den Mäusen oral Gingipain-Hemmer, verhinderten sie damit die Neurodegeneration. Fazit: Das Bakterium alleine wird vermutlich nicht die Alzheimer-Krankheit verursachen. Aber es kann das Risiko einer solchen Erkrankung erhöhen und auch ihre Entwicklung beschleunigen.    

Doch es gibt noch andere Wege, die zu Alzheimer führen können. Und auch sie haben mit dem Mikrobiom zu tun, allerdings mit dem Mikrobiom im Darm. Schon länger vermuten Wissenschaftler: Durch das Immunsystem veranlasste Entzündungsreaktionen im Gehirn könnten für die Entwicklung der  Alzheimer -Erkrankung mitverantwortlich sein. Es finden sich bei Betroffenen sowohl im Blut erhöhte Spiegel entzündungsfördernder Stoffe als auch im Gehirn aktivierte Formen von Mikroglia, den Immunzellen des zentralen Nervensystems. Hier kommen nun die Darmbakterien ins Spiel. Denn sie können die Regulierung des Immunsystems beeinflussen. Etwa über Lipopolysaccharide. Dabei handelt es sich um ein in der äußeren Zellmembran bestimmter Bakterien befindliches Protein mit entzündungsfördernden Eigenschaften. Und genau dieses Protein hat man in der Vergangenheit in Amyloid-Plaques gefunden, den tückischen Proteinablagerungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten. 

Mehr Aufschluss brachte eine Studie von Forschern um Moira Marizzoni vom IRCCS Istituto Centro San Giovanni di Dio Fatebenefratelli im italiensichen Brescia. Sie haben 89 Personen im Alter zwischen 65 und 85 Jahren untersucht . Einige litten an der Alzheimer-Krankheit oder anderen neurodegenerativen Erkrankungen, die ähnliche Gedächtnisprobleme verursachen, während andere keine Gedächtnisprobleme hatten. Mit Hilfe der Positronenemissionstomografie haben die Wissenschaftler Amyloid-Ablagerungen gemessen. Anschließend haben sie das Vorhandensein verschiedener Entzündungsmarker und Proteine wie Lipopolysaccharide, die von Darmbakterien produziert werden, im Blut der Probanden bestimmt.

Sie fanden einen Zusammenhang zwischen bestimmten bakteriellen Produkten des Darmmikrobioms und der Menge an Amyloid-Plaques im Gehirn. Hohe Blutspiegel von Lipopolysacchariden gingen mit großen Amyloid-Ablagerungen im Gehirn einher. Das Darmmikrobiom scheint also eine Rolle zu spielen bei der Alzheimer-Erkrankung. Doch damit nicht genug. Das Darmmikrobiom könnte auch seine Finger bei der Parkinson-Krankheit im Spiel haben. 

2003 war es nur eine gewagte Hypothese, die der deutsche Neuroanatom Heiko Braak aufstellte. Seine Vermutung: Die Parkinson-Erkrankung nimmt ihren Anfang im Darm und breitet sich allmählich ins Gehirn aus. Dazu muss man wissen: Bei Betroffenen sterben Zellen in der Substantia nigra im Gehirn ab, das führt zu einem Mangel des Botenstoffs Dopamin. Die Patienten leiden in der Folge unter Bewegungsstörungen wie Zittern, steifen Muskeln und verlangsamten Bewegungen. Im Verdacht hatte man schon seit langem Ablagerungen des Proteins Alpha-Synuclein im Gehirn. Heiko Braak vermutete nun, dass die Verklumpungen in den Nervenzellen des Darms beginnen und über den Vagus-Nerv, der die Kommunikation zwischen Darm und Gehirn ermöglicht, das Oberstübchen erreichen.      

Parkinson: Ausbreitung vom Darm ins Gehirn

In einer Arbeit von 2019 haben Forscher die bisher eindeutigsten Belege für die Braak-Hypothese geliefert. Forscher um Ted Dawson von Johns Hopkins University School of Medicine, Baltimore spritzten dazu Proteinbestandteile fehlerhaft gefalteter Alpha-Synucleine in relativ hohen Dosen in das Muskelgewebe des Dünndarms und den Magenausgang von Mäusen. Später konnten die Forscher Stadien der Verbreitung des pathologischen Alpha-Synucleins vom Magendarmtrakt bis in das Gehirn der Versuchstiere nachvollziehen. Gleichzeitig entwickelten die kleinen Nager auch Probleme mit der Motorik. Durchtrennten die Forscher hingegen den Vagus-Nerv der Mäuse, konnten die toxischen Proteine das Gehirn nicht erreichen und die parkinsonähnlichen Symptome blieben aus.  

"Weil viele Parkinson-Patienten jahrelang vor Auftreten der Bewegungsstörungen über Magen-Darm-Probleme klagen, entstand die Vorstellung, die Parkinson-Krankheit könnte im Darm entstehen", erklärt der Neuropathologe Walter Schulz-Schaeffer vom Uniklinikum des Saarlandes. "Die Magen-Darm-Probleme können dabei schon Jahre oder sogar Jahrzehnte vor den ersten Symptomen der Parkinson-Erkrankung auftreten." Schulz-Schaeffer und Kollegen konnten bereits vor einigen Jahren zeigen, dass es bei Parkinson-Patienten nicht nur Ansammlungen von fehlgefaltetem Alpha-Synuclein im Gehirn gibt, sondern auch in Abschnitten des Magen-Darms. Unklar sei aber bislang, was tatsächlich das Erste, der Ursprung ist: "Ob sich solche Ansammlungen zuerst im Gehirn bilden und sich dann in die Peripherie des Körpers, ins Magen-Darm-System ausbreiten.“ Denn tatsächlich stießen Wissenschaftler auch schon auf diesen umgekehrten Weg, vom Gehirn in den Darm. Oder ob sich die Ansammlungen umgekehrt von der Peripherie ins Gehirn ausbreiten. 

Darm und Gehirn: Kreislauf statt Einbahnstraße

In beide Richtungen läuft auch das Wechselspiel zwischen Darm und Gehirn beim Thema Depressionen. "Es gibt eine Reihe von Befunden, denen zufolge die Zusammensetzung der Darmbakterien das Gehirn und unser Befinden beeinflussen. Das sagt Gabriele Moser, Fachärztin für Innere Medizin und Psychotherapeutin von der Medizinischen Universität Wien.  Darmkeime produzieren Botenstoffe wie GABA und sind für den Serotoninstoffwechsel verantwortlich. „So beeinflussen sie das Gehirn und damit die Stimmung.  2018 haben Forscher in einer Studie mehr als 1.000 Patienten untersucht und festgestellt: Keime wie Faecalibakterien und Coprococcus-Bakterien gehen mit einer besseren Lebensqualität einher. Sind sie hingegen in einer geringeren Zahl vorhanden, geht das häufiger mit Ängsten und Depressionen einher.  Das Verhältnis zwischen Darm und Gehirn sei dabei keine Einbahnstraße, sondern ein Kreislauf, sagt Gabriele Moser. „So haben Menschen mit Angsterkrankungen oft Durchfälle, depressive Patienten eher Verstopfungen. „Das hängt auch damit zusammen, dass man sich im Zuge der Erkrankungen anders ernährt und körperlich betätigt.“ 

Bessere Stimmung durch neue Darm-WG

Und ähnlich wie sich die Stimmung in einer WG verbessert, wenn ein ungeliebtes Mitglied auszieht und ein sympathischer Neuling einzieht, kann eine neue Zusammensetzung des Darmmikrobioms das seelische Wohlbefinden verbessern: In einer Studie erhielten Patienten mit Depressionen einen Monat lang entweder ein Placebo oder ein Probiotikum, ein Präparat, das darmfreundliche Bakterienstämme enthielt. Zwar gingen dank einer allgemeinen antidepressiven Behandlung in beiden Gruppen die depressiven Symptome zurück. Die Probiotikagruppe profitierte aber mehr von der Behandlung. Eine Analyse ihres Stuhls am Ende der Behandlung offenbarte eine Zunahme von Milchsäurebakterien – ein Effekt, der mit einer Verringerung der depressiven Symptome einherging. 

An der Zusammensetzung der Bakterien im Darm zu drehen, könnte also möglicherweise Patienten helfen, aus dem dunklen Loch einer Depression zu gelangen. Bevor jedoch Menschen mit Depressionen die Drogerien stürmen und sich mit Probiotika eindecken, noch zwei kleine Dämpfer. In den folgenden vier Wochen nahm die Menge der gesundheitsfördernden Darmbakterien wieder ab. Außerdem handelte es sich nur um eine kleine und damit eingeschränkt aussagekräftige Studie. 

Noch ist es für Menschen mit Depressionen zu früh, sich zu freuen. Dennoch lohnt sich der Blick auf den Darm bei psychischen und neurologischen Erkrankungen. 

Zum Weiterlesen

  • Kim, S. et al.: Transneuronal Propagation of Pathologic α-Synuclein from the Gut to the Brain Models Parkinson's Disease. Neuron  2019 Aug 21;103(4):627-641.e7. doi: 10.1016/j.neuron.2019.05.035.  
  • MarizzoniMoira et al.: Short-Chain Fatty Acids and Lipopolysaccharide as Mediators Between Gut Dysbiosis and Amyloid Pathology in Alzheimer's Disease. J Alzheimers Dis. 2020;78(2):683-697. doi: 10.3233/JAD-200306

No votes have been submitted yet.

Author

Scientific support

License Terms

This content is available under the following conditions of use.

BY-NC-SA: Namensnennung, nicht kommerziell, Weitergabe unter gleichen Bedingungen

Related press releases